Wo wir schon bei Einflüssen und Traditionen sind: Es gibt Leute, die glauben, die Science-Fiction — an sich schon ein stark „künstlich-literarisches“ Genre — bestehe ausschließlich aus der direkten und indirekten, gewollten oder ungewollten Wiederholung von immer gleichen Motiven durch die zeitgenössischen SF-Autoren, Motive, wie sie ihre talentierteren Vorgänger eingeführt haben. Natürlich kann man einen SF-Roman schreiben, ohne sich selbst eine eigene, ernsthafte Aufgabe zu stellen, einfach indem man die verschiedenen Erfindungen und Ideen verschiedener Werke neu miteinander kombiniert. Aber ein echter SF-Autor, der sich ernsthaft der Literatur verschrieben hat, wird immer etwas Eigenes sagen wollen, etwas Neues über die Zeit und über sich. Und hier spielt die Lebenserfahrung eines Autors die größte Rolle, seine eigenen Überlegungen, sein Weltbild und sein Menschenbild. Ein SF-Autor lebt bei aller Besonderheit des Genres vor allem von den Eindrücken des Daseins, und meistens wird der Ausgangspunkt seiner Fantasien ein wirkliches Bild, ein Detail oder ein alltäglicher Zufall sein. Daraufhin wird diese Idee gewissermaßen einen „Bruch“ erfahren und gänzlich in die Welt der Fantasie entschwinden. Ich will das im Folgenden anhand einer noch nicht geschriebenen Erzählung mit dem Titel „Hohe Kreuzung“ veranschaulichen. [4] Die Erzählung wurde nicht realisiert. — Anm. d. Übers.
Vor zwei Jahren reiste ich als Mitglied einer sowjetischen Delegation von Wissenschaftlern nach China. Im Observatorium von Nanjing zeigte man mir einen Bronzeglobus des Sternenhimmels, der aus dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung datiert. Das Interessanteste daran war, dass darauf in detailliertester Form jene Sternenbilder und Gestirne eingezeichnet waren, die man nur von der südlichen Erdhalbkugel aus sehen kann — das bedeutete, dass die östlichen Seefahrer schon im ersten Jahrhundert, fast vierzehn Jahrhunderte vor Magellan, in die südlichen Meere vorgedrungen waren. Zwar gab es keinerlei schriftliche Zeugnisse davon, aber es gab den Globus! Mit einem Wort, dieses Erlebnis reizte meine Fantasie und brachte mich auf die Idee, in einer Erzählung die Geschichte längst vergangener Zeiten mit den neuesten Entdeckungen der Kybernetik und den Erkenntnissen auf dem Feld der mechanischen Speicher zu verbinden. Ich stellte mir vor, das Gedächtnis meines Helden, eines direkten Nachfahren eines jener kühnen Seefahrer, habe unbewusste Erinnerungen an jene Meeresfahrt gespeichert. Zwar werden die Ereignisse von Generation zu Generation weitergegeben, sind inzwischen aber auf schwer fassbare, vage Fragmente reduziert. Auf hochkomplexe Weise, wie sie der Wissenschaft so tatsächlich noch nicht zur Verfügung steht, gelingt es, diese schwachen Impulse aufzuzeichnen, sie anschließend neu zu lesen und ein jahrhundertealtes Rätsel zu rekonstruieren und zu lösen…
Aber ehe ich die ersten Worte aufs Papier schreibe, muss ich mir anschaulich und bis ins kleinste Detail ausmalen, wie diese Szenen und Bilder aussehen. Vor meinem inneren Auge muss praktisch ein vollständiger Film ablaufen. Erst wenn ich Bild für Bild und in der richtigen Reihenfolge alle Episoden des zukünftigen Buches vor mir sehe, kann ich anfangen zu schreiben. Eine solche emotionale Vorbereitungsphase, die im Anschluss an die Materialsammlung stattfindet, kann sich ziemlich lange hinziehen. Und bei „Andromedanebel“ war sie extrem lang.
Die Arbeit ging kein bisschen voran, kam einfach nicht von der Stelle. Ich war kurz davor zu verzweifeln: Mein innerer Bildschirm fing nicht an zu leuchten, zeigte mir keine lebendigen Bilder. Aber im Unterbewussten arbeitete meine Fantasie offenbar doch. Einmal sah ich plötzlich das tote, verlassene Sternenschiff vor mir, dieses winzige irdische Sandkorn auf jenem fremden, weit entfernten Planeten der Finsternis, vor meinen Augen schwebten die bösartigen Silhouetten der Medusen vorbei, für einen Moment blitzte in der Finsternis der kreuzförmige Schatten jenes unbestimmten mörderischen Wesens auf, das beinahe die mutige Astronavigatorin Nisa Krit vernichtet hätte… Mein „Film“ begann also mittendrin, aber diese ersten, extrem starken Bilder setzten meine Fantasie in Bewegung — endlich ging die Arbeit vorwärts.
Bald sah ich alle Episoden auf dem Planeten der Finsternis so deutlich vor mir, dass ich manchmal kaum noch mit dem Aufschreiben hinterherkam. Ich schrieb regelmäßig acht bis zehn Seiten am Stück und fühlte mich anschließend kein bisschen erschöpft, sondern verspürte im Gegenteil eine gewaltige Befriedigung und regelrechten Kräftezuwachs. Dafür fielen mir die Verbindungsstücke, die Übergänge zwischen den verschiedenen Fragmenten wahnsinnig schwer. Um so einen kleinen Übergang zwischen, sagen wir, dem Wachturm, von wo die Sternflieger die tödlichen Medusen beobachten, und der Erkundung des spiralförmigen fremden Sternenschiffs zu entwerfen, brauchte ich einen ganzen Tag! Dabei betrug der Textumfang vielleicht eine Viertelseite. Und selbst diese kurze Passage war unter Umständen noch alles andere als gelungen. Jedenfalls war es harte Arbeit, denn an diesen Stellen musste ich mich von meinem inneren Film losreißen, und das fällt mir schwer.
Was aber zwang mich immer wieder zu unfreiwilligen Pausen beim Schreiben? Lag es daran, dass ich mich noch nicht ausreichend mit meinem Material vertraut gemacht hatte, es noch nicht durchdacht hatte? Natürlich spielte auch das hin und wieder eine Rolle. Aber ich glaube, dass ich mich gerade beim Schreiben von „Andromedanebel“ wiederholt an den spezifischen Besonderheiten des Genres rieb, wie es übrigens vielen SF-Autoren passiert. Schon die Vorbereitungsphase ist häufig länger und komplizierter, vor allem wenn man sich ein sehr umfassendes Bild der Zukunft auszumalen versucht. Als ich an meiner Monografie „Straße der Winde“ arbeitete — über die Expedition einer Gruppe sowjetischer Paläontologen in die Wüste Gobi, an der auch ich teilgenommen hatte —, war die Sache sehr viel einfacher. Damals musste ich einfach nur meine Reisetagebücher durchsehen und die Fotografien aus der Mongolei anschauen, schon konnte ich alle Erlebnisse lebhaft erinnern; das Buch wurde mühelos und schnell fertig.
Als ich an „Andromedanebel“ saß, musste ich mir eine andere Gangart zulegen. Ich schrieb den Roman in strenger Isolation. In der Abgeschiedenheit meiner Moskauer Datscha arbeitete ich Tag für Tag, wenn möglich pausenlos, und traf mich fast nie mit anderen Menschen. Das Einzige, womit ich mir hin und wieder etwas Entspannung verschaffte und mich zu stimulieren versuchte, war die Beobachtung des Sternenhimmels. Abends und nachts betrachtete ich die Sterne durch ein starkes Fernglas, suchte den Andromedanebel am Firmament, dann kehrte ich an den Schreibtisch zurück. Um diesen Roman zu schreiben, bedurfte es nicht nur einer gründlichen Vorbereitung im Sinne von konkreter Informations- und Materialsammlung, nicht nur eines genauen Durchdenkens aller Handlungselemente und Einzelheiten, sondern auch einer bestimmten psychischen Verfassung, einer vorübergehenden Abkopplung von allem Alltäglichen — anders wäre mir die rein technische Umsetzung meines Einfalls nicht möglich gewesen.
Deshalb habe ich die Zeit meiner Arbeit an „Andromedanebel“ als eine Zeit des vollständigen Alleinseins und der Stille in Erinnerung, als eine Zeit, in der ich nichts anderes zu sehen bekam als den Schreibtisch und den Sternenhimmel, der irgendwie näher an mich herangerückt zu sein schien. In dieser Lage fiel es mir leichter, mir glaubhafte Einzelheiten der illusorischen Wirklichkeit auszudenken, die dem Roman eine Aura von Wahrscheinlichkeit, ja, Realitätsnähe verliehen.
Ja, realistische Wirkung, eine scheinbare Wahrhaftigkeit von Fantastischem, wird durch realistische Details geschaffen. Solche Details kommen mir immer wie glückliche Entdeckungen vor. Wenn man lange und konzentriert über ungewöhnliche Dinge nachdenkt, fallen einem gewisse Kniffe wie von selbst ein. Ich weiß zum Beispiel noch, wie ich einmal über ein kleines Volk in Zentralindien las, in dessen Aussehen sich mongolische Elemente mit dem klassischen indischen Typus verbanden. Eines der Resultate dieser Mischung waren die großen (für den indischen Typus charakteristischen) Augen, die jedoch schräg standen (wie es für die Augenstellung der Mongolen typisch ist, eine Anpassungserscheinung des Organismus an die dortigen Umweltbedingungen: Schutz vor greller Sonne und Staub). Dieses ungewöhnliche Detail fand ich schön und originell. Ich dachte: Und weshalb diese Besonderheit nicht noch ausbauen? Warum nicht die Augen so richtig groß machen? Aus diesem Detail entstand das Aussehen der Fluor-Menschen in „Das Herz der Schlange“, jener menschlichen Lebewesen, die im Kosmos mit der Expedition der Erdenbürger zusammentreffen.
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