In der anschließenden Stille kauerte ich an der Wand und pustete in meine Hände, um sie zu wärmen. Si’eh hockte vor mir und sah mich durchdringend an. Mir war zu kalt, und deshalb bemerkte ich es zunächst nicht, aber dann beugte er sich plötzlich vor und küsste mich. Erschreckt erstarrte ich, aber es war nicht unangenehm. Es war der Kuss eines Kindes, spontan und bedingungslos. Allein die Tatsache, dass er kein Kind war, rief bei mir Unbehagen hervor.
Si’eh lehnte sich zurück und seufzte wehmütig, als er den Ausdruck auf meinem Gesicht sah. »Tut mir leid«, sagte er und ließ sich neben mir nieder.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte ich. »Sag mir nur, wofür der war.« Ich erkannte, dass das ein versteckter Befehl war und fügte hinzu: »Wenn du willst.«
Er schüttelte den Kopf, spielte den Schüchternen und drückte sein Gesicht gegen meinen Arm. Ich mochte seine Wärme dort, aber ich mochte das Schweigen nicht. Ich entzog mich ihm und zwang ihn dadurch, sich gerade hinzusetzen, weil er sonst umgefallen wäre.
»Yeine!« »Si’eh!«
Er seufzte und sah verärgert aus. Dann setzte er sich in den Schneidersitz. Einen Moment lang dachte ich, er würde schmollen, aber schließlich sagte er: »Ich finde es einfach nicht fair, das ist alles. Naha durfte dich schmecken und ich nicht.«
Jetzt fühlte ich mich definitiv unbehaglich. »Selbst in meinem Barbarenland nehmen sich Frauen keine Kinder als Geliebte.«
Der Ärger in seinem Gesichtsausdruck verstärkte sich. »Ich habe dir schon einmal gesagt, ich will das nicht von dir. Ich rede hiervon.« Er ging plötzlich auf die Knie und lehnte sich nach vorne. Ich zuckte weg, und er wartete ab. Mir kam in den Sinn, dass ich ihn liebte, ihm meine innerste Seele anvertraute. Sollte ich ihm da nicht mit einem Kuss trauen? Also atmete ich tief ein und entspannte mich. Si’eh wartete, bis ich ihm zunickte und noch ein bisschen länger, nur um sicher zu sein. Dann lehnte er sich vor und küsste mich erneut.
Diesmal war es anders, weil ich ihn schmeckte — nicht Si’eh, das süße, ein wenig unanständige Kind, aber den Si’eh hinter der menschlichen Maske. Es war ... schwer zu beschreiben. Ein plötzlicher Ausbruch von etwas Erfrischendem, wie einer reifen Melone oder vielleicht eines Wasserfalls. Ein reißender Strom, ein Strudel — er floss in mich hinein, durch mich hindurch und wieder zu ihm zurück. Das ging so schnell, dass ich kaum Luft holen konnte. Salz. Blitze. Das tat so weh, dass ich mich fast entzogen hätte, aber in der Entfernung spürte ich, wie Si’ehs Hände sich schmerzhaft um meine Arme schlössen. Bevor ich aufschreien konnte, schoss ein kalter Wind durch mich hindurch und linderte sowohl den Schock als auch meine Blutergüsse.
Dann zog Si’eh sich zurück. Ich starrte ihn an, aber seine Augen waren immer noch geschlossen. Er stieß einen tiefen, befriedigten Seufzer aus, setzte sich wieder neben mich, hob meinen Arm und legte ihn schützend um sich.
»Was ... war das?«, fragte ich, als ich mich ein wenig erholt hatte.
»Ich«, sagte er. Natürlich.
»Wonach schmecke ich?«
Si eh seufzte, kuschelte sich an meine Schulter, und seine Arme lagen um meine Hüfte. »Weich, neblige Orte voller scharfer Kanten und versteckter Farben.«
Ich konnte nicht anders und musste kichern. Ich fühlte mich benebelt, als ob ich zu viel von Relads Likör getrunken hätte. »Das ist kein Geschmack!«
»Natürlich ist es das. Du hast Naha geschmeckt, nicht wahr? Er schmeckt, als ob man unten aus dem Universum herausfällt.«
Das stoppte mein Kichern, denn es stimmte. Wir saßen noch eine Weile zusammen, sprachen nicht und dachten nicht — oder zumindest ich tat es nicht. Nach der andauernden Sorge und den ständigen Intrigen der letzten zwei Wochen war das hier die reine Wonne. Vielleicht dachte ich deswegen über eine andere Art Frieden nach, als das Denken wieder einsetzte.
»Was wird mit mir geschehen?«, fragte ich. »Danach.«
Er war ein kluges Kind, er wusste sofort, was ich meinte.
»Du wirst eine Weile umhertreiben«, sagte er sehr leise. »Seelen tun das in der ersten Zeit, wenn sie vom Fleisch befreit wurden. Später werden sie dann zu Orten hingezogen, die mit bestimmten Aspekten ihres Charakters harmonieren. Orte, die für fleischlose Seelen sicher sind — nicht so etwas wie diese Welt.«
»Die Himmel und die Höllen.«
Er zuckte kaum merklich mit den Schultern, damit er uns nicht anstieß. »So nennen die Sterblichen sie.«
»Ist das nicht, was sie sind?«
»Ich weiß es nicht. Was macht das schon?« Ich stutzte, er seufzte. »Ich bin kein Sterblicher, Yeine, ich bin nicht so davon besessen, wie ihr es seid. Sie sind einfach nur ... Orte, an denen das Leben sich ausruhen kann, wenn es nicht lebt. Es gibt viele davon, weil Enefa wusste, dass ihr Abwechslung braucht.« Er seufzte. »Wir glauben, dass Enefa deswegen die ganze Zeit umhertrieb. Sie erschuf so viele Orte, und diejenigen, die am besten mit ihr harmoniert hätten, verschwanden, als sie starb.«
Ich zitterte und meinte, dass tief in mir drin noch etwas anderes erzitterte.
»Werden ... werden unsere beiden Seelen einen Ort finden — sie und ich? Oder wird ihre wieder umhertreiben?«
»Ich weiß es nicht.« Der Schmerz in seiner Stimme war kaum zu hören. Jeder andere hätte ihn nicht wahrgenommen.
Ich streichelte schnell seinen Rücken. »Wenn ich kann«, sagte ich, »wenn ich es irgendwie kontrollieren kann, werde ich sie mit mir nehmen.«
»Es kann sein, dass sie nicht gehen möchte. Die einzigen Orte, die jetzt noch übrig sind, sind diejenigen, die ihre Brüder erschaffen haben. Die passen allerdings nicht so recht zu ihr.«
»Dann kann sie in mir bleiben, wenn das besser ist. Ich bin kein
Himmel, aber wir sind bis jetzt auch miteinander ausgekommen. Wir müssen uns allerdings unterhalten. Diese ganzen Visionen und Träume müssen aufhören. Sie lenken ziemlich ab.«
Si’eh hob seinen Kopf und starrte mich an. Ich verzog so lange wie möglich keine Miene, aber das währte nicht lange. Natürlich schaffte er es länger als ich. Er hatte Jahrhunderte mehr Übung darin.
Wir lagen schallend lachend auf dem Boden und hielten uns umschlungen. So endete der letzte Tag meines Lebens.
Ich ging alleine zu meiner Wohnung zurück, ungefähr eine Stunde vor der Abenddämmerung. Als ich eintrat, saß Naha immer noch in dem großen Sessel, so als ob er sich den ganzen Tag nicht bewegt hätte. Auf dem Nachttisch war allerdings ein leeres Tablett. Er schreckte auf, als ich hereinkam. Ich vermutete, dass er eingenickt war oder vor sich hin geträumt hatte.
»Geh, wohin du willst, für den Rest des Tages«, sagte ich zu ihm. »Ich wäre gerne eine Weile allein.«
Er widersprach nicht und stand auf. Auf meinem Bett lag ein Kleid, ein langes Abendkleid, sehr hübsch gearbeitet, aber es war dunkelgrau. Passende Schuhe und Accessoires lagen daneben.
»Diener haben das gebracht«, sagte Nahadoth. »Du sollst das heute Abend tragen.«
»Danke.«
Er ging auf dem Weg nach draußen an mir vorbei, sah mich aber nicht an. Ich hörte, wie er an der Schwelle des Zimmers kurz stehenblieb. Vielleicht drehte er sich um. Vielleicht öffnete er seinen Mund, um etwas zu sagen. Aber er sagte nichts, und kurz darauf hörte ich, wie sich die Wohnungstür öffnete und schloss.
Ich badete und zog mich an. Dann setzte ich mich ans Fenster und wartete.
Ich sehe mein Land unter mir.
Die Wachtürme auf dem Bergpass wurden bereits überrannt. Die Darre-Truppen dort sind tot. Sie haben gut gekämpft und die Enge des Passes ausgenutzt, um ihre Minderzahl auszugleichen, aber am Ende waren es einfach zu viele Feinde. Die Darre konnten sich lange genug halten, um die Signalfeuer zu entzünden und eine Nachricht zu schicken: Der Feind kommt.
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