»Wartet«, sagte er und ging hinter seinen Schreibtisch. Er durchwühlte einige Schubladen, richtete sich dann auf und hielt ein kleines, hübsch bemaltes Keramikfläschchen in den Händen. Er gab es mir.
»Versucht, ob das hilft«, sagte er. »Er könnte sich eimerweise davon kaufen, wenn er wollte, aber er mag es, bestochen zu werden.«
Ich steckte das Fläschchen in die Tasche und prägte mir die Information ein. Aber die ganze Unterhaltung warf eine neue Frage auf. »T’vril, warum helft Ihr mir?«
»Ich wünschte, ich wüsste es«, antwortete er und klang plötzlich erschöpft.
»Es ist offensichtlich zu meinem Nachteil — das Fläschchen hat mich ein Monatsgehalt gekostet. Ich habe es aufbewahrt, bis ich einmal einen Gefallen von Relad benötige.«
Ich war jetzt reich, deshalb notierte ich in meinem Gedächtnis, drei dieser Fläschchen zu bestellen und sie T’vril als Entschädigung zu schicken. »Warum dann?«
Er sah mich lange an, vielleicht, weil er sich über die Antwort erst selbst klar werden musste. Schließlich seufzte er. »Weil es mir nicht gefällt, was sie Euch antun. Weil Ihr wie ich seid. Ich weiß es wirklich nicht.«
Wie er? Ein Außenseiter? Er war hier aufgewachsen und hatte genauso viel Verbindung zur Zentralfamilie wie ich, aber er würde in Dekartas Augen nie ein wahrer Arameri sein. Oder meinte er, dass ich die einzige andere anständige, ehrliche Seele an diesem Ort war? Falls das der Wahrheit entsprach.
»Habt Ihr meine Mutter gekannt?«, fragte ich.
Er sah überrascht aus. »Lady Kinneth? Ich war noch ein Kind, als sie uns für Euren Vater verließ. Ich kann nicht sagen, dass ich noch viel von ihr weiß.«
»An was erinnert Ihr Euch?«
Er lehnte sich an den Schreibtischrand, verschränkte die Arme und dachte nach. In dem elysiumeigenen Licht glänzte sein geflochtenes Haar wie ein Kupferseil. Die Farbe hätte vor Kurzem noch unnatürlich auf mich gewirkt. Jetzt lebte ich unter Arameri und verkehrte mit Göttern. Meine Maßstäbe hatten sich geändert.
»Sie war wunderschön«, sagte er. »Nun, alle Mitglieder der Zentralfamilie sind wunderschön; was die Natur ihnen versagt, gibt ihnen die Magie. Aber bei ihr war es mehr als das.« Er runzelte die Stirn. »Sie erschien mir immer ein wenig traurig. Ich habe sie nie lächeln sehen.«
Ich erinnerte mich an das Lächeln meiner Mutter. Sie hatte wesentlich öfter gelächelt, als mein Vater noch lebte, aber manchmal hatte sie mich auch angelächelt. Ich schluckte, um den Kloß in meinem Hals loszuwerden, und hustete, um es zu verdecken. »Ich kann mir vorstellen, dass sie nett zu Euch war. Sie mochte Kinder schon immer.«
»Nein.« T’vrils Ausdruck war nüchtern. Er hatte wahrscheinlich bemerkt, dass ich kurz die Fassung verloren hatte, aber zum Glück war er zu diplomatisch, um darauf einzugehen. »Sie war höflich, sicherlich, aber ich war nur ein Halbblut, das von Bediensteten aufgezogen wurde. Es wäre seltsam gewesen, wenn sie uns gegenüber Freundlichkeit oder gar Interesse gezeigt hätte.«
Ich konnte nicht anders, als die Stirn zu runzeln. In Darr hatte meine Mutter immer dafür gesorgt, dass die Kinder unserer Bediensteten Geschenke zum Geburtstag und zur Lichtweihe bekamen. Während der heißen, schwülen Darr-Sommer hatte sie den Dienern gestattet, ihre Ruhestunden in unserem Garten zu verbringen, wo es kühler war. Sie hatte unseren Haushofmeister wie ein Familienmitglied behandelt.
»Ich war noch Kind«, wiederholte T’vril. »Wenn Ihr bessere Erinnerungen möchtet, solltet Ihr Euch an die älteren Bediensteten wenden.«
»Gibt es jemanden, den Ihr besonders empfehlt?«
»Sie werden alle mit Euch reden. Wer sich allerdings am besten an Eure Mutter erinnert — das kann ich Euch nicht sagen.« Er zuckte mit den Schultern.
Nicht ganz das, was ich mir erhofft hatte, aber immerhin etwas, auf das ich später zurückkommen konnte. »Ich danke Euch nochmals, T’vril«, sagte ich und ging, um Relad zu suchen.
In den Augen eines Kindes ist die Mutter eine Göttin. Sie kann wunderbar oder furchtbar sein, wohlwollend oder voller Zorn, aber sie gebietet in jedem Fall Liebe. Ich bin überzeugt, dass dies die größte Macht des Universums ist.
Meine Mutter ...
Nein. Noch nicht.
Im Solarium war die Luft schwülwarm und von dem Duft blühender Bäume durchzogen. Einer von Elysiums Türmen überragte die Bäume — der zentralste und höchste, dessen Eingang irgendwo zwischen den sich windenden Pfaden liegen musste. Anders als die anderen Türme verjüngte sich dieser sehr schnell bis auf wenige Fuß im Durchmesser — und war damit zu eng, um große Wohnungen oder Räume zu beherbergen. Vielleicht diente er nur zur Dekoration.
Wenn ich meine Lider halb geschlossen ließ, konnte ich den Turm ignorieren und mir vorstellen, in Darr zu sein. In meinem Land waren die Wälder dicht, feucht und dunkel wie Geheimnisse, voll Gestrüpp und winziger, versteckter Kreaturen. Trotzdem waren die Geräusche und Gerüche ähnlich genug, um mein Heimweh zu lindern. Ich blieb dort, bis Stimmen in der Nähe meine Illusion verblassen ließen.
Rapide verblassen ließen — eine der Stimmen war die von Scimina.
Ich konnte ihre Worte nicht verstehen, aber sie war ganz in der Nähe.
Irgendwo in den Nischen vor mir, verborgen hinter einem Dickicht aus Gebüsch und Bäumen. Der mit weißen Kieselsteinen belegte Pfad unter meinen Füßen führte in diese Richtung und würde sich wahrscheinlich bis dorthin verzweigen, so dass jeder sehen würde, wenn ich mich näherte.
Zur Hölle damit, entschied ich.
Mein Vater war vor seinem Tod ein großartiger Jäger gewesen. Er hatte mir beigebracht, meine Füße im Wald abzurollen, damit gefallenes Laub möglichst wenig raschelte. Außerdem wusste ich, dass ich mich ducken musste, weil es der menschlichen Natur entspricht, Bewegungen auf Augenhöhe wahrzunehmen, aber das, was sich darüber oder darunter befindet, wird oft nicht bemerkt. In einem Wald in Darr wäre ich auf den nächsten Baum geklettert, aber ich konnte schlecht diese dürren, laublosen Dinger erklimmen. Also nach unten.
Als ich näher kam — nur bis auf Hörreichweite, noch näher und man würde mich sehen —, kauerte ich mich am Fuße eines Baumes zusammen, um zu lauschen.
»Na komm, Bruder, das ist doch nicht zu viel, oder?« Sciminas Stimme, warm und schmeichelnd. Unwillkürlich zitterte ich bei ihrem Klang vor Angst und Wut gleichzeitig. Sie hatte es unterhaltsam gefunden einen Gott wie einen abgerichteten Hund auf mich loszulassen. Es war lange her, dass ich jemanden so abgrundtief gehasst hatte.
»Alles, was du willst, ist zu viel«, sagte eine neue Stimme — männlich, Tenor mit einem gereizten Unterton. Relad? »Geh fort und lass mich nachdenken.«
»Du kennst diese Dunkelrassen, Bruder. Sie haben keine Geduld und keinen Verstand. Sie sind immer erbost über Dinge, die vor Generationen geschehen sind ...« Den Rest ihrer Worte verstand ich nicht mehr. Ich konnte ab und zu Schritte hören, was bedeutete, dass sie auf und ab ging — auf mich zu und von mir weg. Wenn sie in die andere Richtung ging, war es schwer, sie zu hören. »Sieh nur zu, dass deine Leute die Liefervereinbarung unterzeichnen. Sie wird dir und ihnen nur Gewinn bringen.«
»Das, meine süße Schwester, ist eine Lüge. Du würdest mir nie etwas anbieten, das nur meinem Vorteil dient.« Ein resigniertes Seufzen, ein Gemurmel, das ich nicht verstand, dann: »Geh weg, sagte ich. Ich habe Kopfschmerzen.«
»Wenn man sich deine Vergnügungen vor Augen hält, ist das kein Wunder.« Seiminas Stimme hatte sich verändert. Sie war immer noch gebildet, hell und freundlich, aber die Wärme war weg, da Relad offensichtlich die Absicht hatte, sie abzuweisen. Ich staunte, wie eine so kleine Verändung einen derartigen Unterschied machen konnte. »Wie du wünschst, ich komme wieder, wenn du dich besser fühlst. Ach übrigens, hast du unsere neue Cousine schon kennengelernt?«
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