„Der einzige Ausweg, den ich sehe, liegt darin, daß sich das Ungeheuer den König schnappt und ihn entführt, verstehst du? Auf diese Weise…“
„Du brauchst gar nichts mehr zu sagen. Ja wirklich, das ist eine Idee! Wir könnten ihn dann festhalten… und ist dir eigentlich schon aufgefallen, daß die Nachtigallen hier noch süßer singen als in Maryland Island?“ beendete Klapauzius geschickt seinen Satz, denn einige Diener trugen in diesem Moment Lampen mit silbernen Postamenten auf die Terrasse.
„Nehmen wir einmal an, die Sache läuft tatsächlich so, wie wir es uns vorstellen“, fuhr er fort, als sie wieder allein auf der dunklen Terrasse saßen, die durch die Lampen nur spärlich beleuchtet wurde, „wie sollen wir mit unserer Geisel verhandeln, falls wir selbst irgendwo in einem Kerker schmachten?“
„Das ist wirklich ein Problem“, brummte Trurl vor sich hin, „da müssen wir noch eine andere Lösung finden… Das wichtigste jedenfalls ist der Algorithmus des Ungeheuers.“
„Na, du bist mir ein rechter Schlauberger! Das weiß doch jedes Kind, daß ohne den Algorithmus gar nichts läuft. Es hilft also nichts, wir müssen experimentieren!“
Also krempelten sie die Ärmel hoch und fingen mit dem Experimentieren an. Das aber bestand darin, daß sie zu nächst ein Modell König Grausams und des Ungeheuers herstellten, beide natürlich nur auf dem Papier, denn sie gingen streng mathematisch vor. Trurl nahm sich des Monarchen an, während sich Klapauzius mit dem Ungeheuer abmühte. Und die beiden mathematischen Modelle prallten auf dem mit Gleichungen übersäten Tisch mit solcher Wucht aufeinander, daß die Bleistifte der Konstrukteure immer wieder abbrachen. Und das Ungeheuer wand und krümmte sich mit all seinen indefiniten Integralen unter den mächtigen Schlägen der königlichen Gleichungen, brach in einer infiniten Serie undeterminierter Glieder zusammen, raffte sich aber sogleich wieder auf, indem es sich selbst in die n-te Potenz erhob, aber der König traktierte es derart gnadenlos mit Differentialen, daß die funktionalen Operatoren in alle Winde zerstreut wurden und ein derart nichtlineares algebraisches Chaos entstand, daß keiner der Konstrukteure mehr herausfinden konnte, was mit dem König und was mit dem Ungeheuer geschehen war, denn sie hatten beide in dem Wirrwarr durchgestrichener Zeichen völlig aus den Augen verloren. Also standen sie vom Tisch auf, nahmen zur Stärkung einen kräftigen Schluck aus der Leidener Flasche, setzten sich und begannen erneut mit der Arbeit, wobei sie diesmal ihr komplettes Arsenal von Tensormatrizes und linearen Vektorfunktionen zum Einsatz brachten und sich mit solchem Feuereifer an die Große Analyse machten, daß das Papier unter ihren Händen nur so rauchte. Der König stürmte mit all seinen grausamen Koordinaten und Koeffizienten vorwärts, verlor die Orientierung in einem finsteren Wald von Wurzeln und Logarithmen, zog sich den eigenen Spuren folgend auf seinen Ausgangspunkt zurück, traf dann auf einem Feld irrationaler Zahlen auf das Ungeheuer und versetzte ihm einen solch schrecklichen Schlag, daß es sogleich in einhundert Polynome zerfiel, ein x und zwei y verlor und augenblicklich um zwei Dezimalstellen herunterfiel, aber die Bestie kroch um eine Asymptote herum, verbarg sich in einem n-dimensionalen Hilbert-Raum, dehnte sich mit Hilfe des Hubble-Effekts gewaltig aus, stürzte urplötzlich vorwärts, fuchtelte voller Ingrimm mit knorrigen Kubikwurzeln herum, um den Gegner abzulenken, und schleuderte dann blitzschnell ihren panzerbrechenden Boole-Bumerang. Das gutgezielte Geschoß traf Seine Mathematisierte Majestät mit solcher Wucht, daß die komplette königliche Gleichung in ihren Grundfesten erbebte. Der grausame Monarch wankte, aber er fiel nicht, er umgab sich mit einem nichtlinearen Panzer, erreichte einen Punkt in der Unendlichkeit, kehrte blitzschnell zurück, umspannte mit kräftiger Hand die schwere Markov-Kette und traf die Bestie mit einem so furchtbaren Hieb, daß er ihr sämtliche runden und eckigen Klammern zerschmetterte. Doch die tückische Bestie, die vorn einen Logarithmus und hinten eine ganze Potenz eingebüßt hatte, raffte sich auf, packte den Gegner mit ihren Klauen und schlug ihm — rums, bums! — eine schwere Hauptachsentransformation um die Ohren (das ging schnell wie der Wind, so daß die Bleistifte der Konstrukteure wie verrückt über die transzendenten Funktionen dahinsausten), dann kam ein krachender Kovariantenhaken, gefolgt von einer unendlichen Geraden, der König taumelte, schlug der Länge nach hin und blieb bewegungslos im kommutativen Ringstaub liegen. In diesem Moment sprangen die Konstrukteure vor Freude in die Luft, lachten lauthals und tanzten einen Tangenten-Tango, danach zerrissen sie all ihre Papiere in kleine Fetzen, sehr zur Verblüffung der Spione, die ihr Treiben aus der luftigen Höhe ihres Verstecks im Kronleuchter eifrig beobachteten — völlig vergebens natürlich, denn da sie in die Geheimnisse der höheren Mathematik nicht eingeweiht waren, hatten sie selbstverständlich auch keine blasse Ahnung, weshalb Trurl und Klapauzius jetzt in ein donnerndes Hurra ausbrachen, sich gegenseitig auf die Schulter klopften und immer wieder schrien: „Sieg! Sieg!!“
Weit nach Mitternacht wurde die Leidener Flasche, aus der sich die Konstrukteure bei ihrer schweren Arbeit von Zeit zu Zeit gestärkt hatten, in die Forschungslaboratorien der Allergeheimsten Polizei des Königreichs gebracht. Geschickte Laboranten in weißen Kitteln öffneten ihren doppelten Boden und holten mit der Pinzette ein Mikrophönchen und ein Magnetophönchen heraus. Hochqualifizierte Experten schalteten den Apparat ein und hörten mit größter Aufmerksamkeit alle Worte ab, die in dem karmesinroten und dunkelgrünen Arbeitszimmer gefallen waren. Jedoch die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne fielen auf lange, verstörte und völlig unaufgeklärte Gesichter, die keinen der so sorgsam abgehörten Sätze verstanden hatten.
Da sagte z. B. eine Stimme:
* Na, was ist? Ist der König so weit?
* Alles klar!
* Ja, wo hast du ihn denn hingesetzt? Hier? Gut! Jetzt paß auf, du mußt die Füße zusammenhalten! Die Füße, sage ich! Idiot, nicht deine eigenen, die des Königs! Und jetzt schnell den Differentialkoeffizienten! Was kommt bei dir raus?
* Pi.
* Und wo ist die Bestie?
* In der Klammer. Aber sieh mal, der König steht immer noch!
* Was, der steht noch? Sofort beide Seiten mit einer imaginären Zahl multiplizieren! Ja, so ist es gut. Und gleich noch einmal, gib's ihm! Jetzt tausch doch endlich die Vorzeichen aus, du Dummkopf! Guter Gauß, was tust du? Das ist doch die Bestie, nicht der König! Ja, das ist es, jetzt haben wir ihn! So, jetzt nur noch transformieren, approximieren, und dann ab damit in den realen Raum! Hast du's?
* Ich hab's! Ach, mein Klapäuzelchen, du bist der Größte, sieh nur, was mit dem König geschehen ist!!
Nach einer kurzen Pause brach jemand in wahnsinniges Gelächter aus.
Am selben Morgen, als alle Experten und hohen Beamten der Geheimpolizei ratlos den Kopf schüttelten und sich nach einer schlaflosen Nacht die rotgeränderten Augen neben, da baten die Konstrukteure sehr energisch um Quarz, Vanadium, Stahl, Kupfer, Platin, Bergkristalle, Titan, Cerium, Germanium und überhaupt alle Elemente, aus denen der Kosmos zusammengesetzt ist; zusätzlich verlangten sie verschiedene Maschinen, qualifizierte Mechaniker und Spione — ja wirklich, Spione, denn die Konstrukteure waren derart übermütig geworden, daß sie sich erdreisteten, auf das Bestellformular in dreifacher Ausfertigung zu schreiben: „Wir bitten ebenfalls um Spione aller Art und Sorten, ganz nach dem Gutdünken und Ermessen der zuständigen Behörden.“ Am nächsten Tag verlangten sie Sägespäne und einen roten Samtvorhang auf ein Gestell drapiert, mit einem Bündel Glasglöckchen in der Mitte und breiten Troddeln an allen vier Ecken; an Präzision ließen sie es nicht fehlen, selbst die Maße der allerkleinsten Glasglöckchen waren auf den Millimeter genau vermerkt. Seine Grenzenlose Grausamkeit machte eine finstere Miene, als er von diesen Forderungen der beiden Frechlinge hörte, veranlaßte jedoch ihre strikte Erfüllung, denn er hatte nun einmal sein königliches Wort gegeben.
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