»Könnten sie … mir vielleicht einfach einen anderen Psychiater geben?«
»Na ja. Nicht ohne triftigen Grund. Die Uniklinik hat Sie an diesen Haber überwiesen; und die da oben sind gut, wissen Sie. Wenn Sie eine Beschwerde gegen Haber vorbringen, wären die Leute, die als Experten zu der Anhörung hinzugezogen werden, höchstwahrscheinlich Mitglieder der medizinischen Fakultät, möglicherweise sogar dieselben, die das Gespräch mit Ihnen geführt haben. Die werden die Aussage eines Patienten nicht ohne Beweis höher bewerten als die eines Arztes. Nicht bei dieser Art von Fall.«
»Einem Fall von Geisteskrankheit«, sagte der Klient traurig.
»Exakt.«
Er sagte eine Weile nichts. Schließlich schaute er auf, so daß sie seine Augen sehen konnte, klare, helle Augen mit einem Ausdruck ohne Zorn und ohne Hoffnung; er lächelte. »Haben Sie vielen Dank, Miss Lelache«, sagte er. »Tut mir leid, daß ich Ihre Zeit vergeudet habe.«
»Halt, warten Sie!« sagte sie. Er mochte einfältig sein, aber er sah ganz sicher nicht verrückt aus; er machte nicht einmal einen neurotischen Eindruck. Er schien nur verzweifelt zu sein. »So leicht müssen Sie auch nicht aufgeben. Ich sagte nicht, daß wir keinen Fall haben. Sie haben gesagt, daß Sie Ihre Medikamentenabhängigkeit überwinden möchten, Dr. Haber Ihnen jetzt aber Barbiturate in höherer Dosierung verordnet, als Sie sie vorher genommen haben; das könnte eine Untersuchung rechtfertigen. Allerdings bezweifle ich es stark. Aber die Wahrung des Rechts auf Privatsphäre ist mein Spezialgebiet, und ich möchte gern wissen, ob es zu einer Verletzung der Privatsphäre gekommen ist. Ich habe lediglich gesagt, daß Sie mir Ihren Fall ja noch gar nicht geschildert haben — wenn es denn einen gibt. Was hat denn dieser Arzt genau gemacht?«
»Wenn ich Ihnen das sage«, meinte der Klient mit einer beklagenswerten Objektivität, »halten Sie mich für verrückt.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
Miss Lelache ließ sich nicht leicht beeinflussen, eine exzellente Eigenschaft für eine Anwältin, wußte aber, daß sie es ein wenig zu weit trieb.
»Wenn ich Ihnen sagen würde«, fuhr der Klient im selben Tonfall fort, »daß einige meiner Träume einen gewissen Einfluß auf die Wirklichkeit ausüben, und daß Dr. Haber das herausgefunden hat und sie … meine spezielle Begabung … für seine eigenen Zwecke mißbraucht, und zwar ohne meine Zustimmung … dann würden Sie doch denken, daß ich verrückt bin. Oder nicht?«
Miss Lelache sah ihn eine Weile an, das Kinn auf die Hände gestützt. »Na ja. Fahren Sie fort«, sagte sie schließlich schneidend.
Er hatte ganz recht damit, was sie dachte, aber der Teufel sollte sie holen, wenn sie das zugab. Und wenn er verrückt war, na und? Welcher normale Mensch konnte in dieser Welt leben und nicht verrückt werden?
Er betrachtete eine Weile seine Hände und versuchte offenbar, seine Gedanken zu ordnen. »Sehen Sie«, sagte er, »er hat so eine Maschine. Eine Gerät wie einen EEG-Rekorder, aber es führt eine Art Analyse und Rückkopplung der Gehirnwellen durch.«
»Sie meinen, er ist ein verrückter Wissenschaftler mit einer Höllenmaschine?«
Der Klient lächelte kläglich. »So hört es sich bei mir an. Nein, ich glaube, daß er einen sehr guten Ruf als Forscher genießt und es wirklich seine Absicht ist, den Menschen zu helfen. Ich glaube nicht, daß er mir oder einem anderen Schaden zufügen möchte. Seine Motive sind edel.« Er bemerkte einen Moment den ernüchterten Blick der Schwarzen Witwe und geriet ins Stottern. »Die, die Maschine. Also ich kann Ihnen nicht sagen, wie sie funktioniert, aber er benutzt sie bei mir, um mein Gehirn im paradoxen Schlaf zu halten, wie er sich ausdrückt — das ist der Fachausdruck für diesen speziellen Schlaf, in dem man träumt. Er unterscheidet sich sehr vom gewöhnlichen Schlaf. Dr. Haber versetzt mich durch Hypnose in den Schlaf, und dann schaltet er diese Maschine ein, damit ich unverzüglich anfange zu träumen — normalerweise ist das nicht der Fall. So jedenfalls habe ich es verstanden. Die Maschine gewährleistet, daß ich träume, und ich glaube, sie regt das Traumstadium auch an. Und dann träume ich das, was er mir in der Hypnose befohlen hat.«
»Na ja. Das hört sich nach einer narrensicheren Methode an, wie ein altmodischer Psychoanalytiker Träume analysieren kann. Aber statt dessen befiehlt er Ihnen durch hypnotische Suggestion, was Sie träumen sollen? Ich vermute einmal, daß er Sie aus irgendeinem Grund durch die Träume konditioniert. Jetzt ist ja allgemein bekannt, daß eine Person unter Hypnose praktisch alles kann und tun wird, ganz gleich, ob ihr Gewissen es im Normalzustand zulassen würde oder nicht: das ist seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts bekannt und wurde durch den Fall Somerville versus Projanski 1988 in der Rechtsprechung verankert. Na ja. Haben Sie Gründe zu der Vermutung, daß dieser Arzt Hypnose benutzt, um Ihnen zu suggerieren, daß Sie etwas Gefährliches ausführen, etwas, das Sie moralisch verwerflich finden würden?«
Der Klient zögerte. »Gefährlich, ja. Wenn man akzeptiert, daß ein Traum gefährlich sein kann. Aber er gibt mir keine Anweisungen, etwas zu tun. Nur, es zu träumen. «
»Naja, aber sind denn die Träume, die er Ihnen suggeriert, moralisch verwerflich für Sie?«
»Er ist kein … böser Mensch. Er meint es gut. Ich habe nur Einwände dagegen, daß er mich als Instrument benutzt, als Mittel zum Zweck — auch wenn er die besten Absichten haben sollte. Ich kann mir kein Urteil über ihn anmaßen — meine eigenen Träume hatten unmoralische Auswirkungen, eben darum habe ich ja versucht, sie mit Hilfe von Medikamenten zu unterdrücken und bin in dieses Schlamassel hineingeraten. Und ich möchte wieder da raus, möchte von den Medikamenten loskommen, möchte geheilt werden. Aber er heilt mich nicht. Er ermutigt mich.«
»Was zu tun?« fragte Miss Lelache nach einer Pause.
»Die Realität zu verändern, indem ich träume, daß sie anders ist«, sagte der Klient unterwürfig und ohne Hoffnung.
Miss Lelache ließ die Spitze des Kinns erneut zwischen ihre Hände sinken und betrachtete eine Zeitlang die blaue Schachtel mit Büroklammern an der äußersten Peripherie ihres Gesichtsfelds auf dem Schreibtisch. Sie schaute verstohlen zu dem Klienten auf. Da saß er, so sanftmütig wie zuvor, aber jetzt glaubte sie, daß er nicht mehr zerquetscht werden würde, sollte sie auf ihn treten, er würde auch nicht knirschen, vermutlich nicht einmal brechen. Er wirkte erstaunlich solide.
Menschen, die einen Anwalt aufsuchen, sind meist in der Defensive, wenn sie nicht in der Offensive sind; sie haben es natürlich auf etwas abgesehen — ein Erbe, einen Besitz, eine einstweilige Verfügung, eine Scheidung, eine Einweisung, was auch immer. Sie kam nicht dahinter, worauf es dieser Bursche, der so zurückhaltend und schutzlos wirkte, abgesehen hatte. Seine Worte ergaben keinen Sinn, und dennoch hörte er sich nicht an, als würde er keinen Sinn ergeben.
»Na ja«, sagte sie vorsichtig. »Und was ist falsch an dem, was er mit Hilfe Ihrer Träume tut?«
»Ich habe kein Recht, etwas zu verändern. Und er nicht, mich dazu zu zwingen.«
O Gott, er glaubte das wirklich, er hatte tatsächlich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Und doch faszinierte sie seine moralische Festigkeit, als wäre auch sie selbst nicht mehr ganz richtig im Oberstübchen.
»Wie verändern Sie etwas? Und was? Nennen Sie mir ein Beispiel!« Sie empfand kein Mitleid mit ihm, wie es sich bei einem Kranken, einem Schizo oder Paranoiden mit Wahnvorstellungen, daß er die Wirklichkeit manipulieren konnte, geziemt hätte. Hier saß »wieder ein Opfer dieser unserer Zeiten, die die Seelen der Menschen auf die Probe stellen«, wie Präsident Merdle mit seiner stets erheiternden Art, ein Zitat zu entstellen, in seinem Bericht zur Lage der Nation gesagt hatte; und hier saß sie und war gemein zu einem armen, elenden, blutenden Opfer mit Löchern im Gehirn. Aber sie wollte nicht freundlich zu ihm sein. Er konnte es ertragen.
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