Zwecklos. Kein Ausweg. Orr war wieder da, wo er seit Monaten war — allein: Er wußte, daß er verrückt war, und daß er nicht verrückt war, beides gleichzeitig und gleichermaßen intensiv. Das reichte aus, ihn in den Wahnsinn zu treiben.
»Wäre es möglich«, sagte er zaghaft, »daß Sie mir eine posthypnotische Suggestion geben, nicht mehr wirkungsvoll zu träumen? Schließlich können Sie ja auch suggerieren, daß ich es tue … Auf die Weise käme ich wenigstens von den Medikamenten los, jedenfalls eine Weile.«
Haber ließ sich zusammengekauert wie ein Bär hinter seinem Schreibtisch nieder. »Ich bezweifle sehr, daß das wirken würde, und sei es nur für eine Nacht«, sagte er schlicht und einfach. Und dann, plötzlich wieder schallend: »Ist das nicht der vergebliche Weg, den Sie schon ausprobiert haben, George? Medikamente oder Hypnose, beides läuft auf Unterdrückung hinaus. Sie können nicht vor Ihrem eigenen Verstand davonlaufen. Das begreifen Sie, sind aber noch nicht bereit, es zu akzeptieren. Das macht nichts. Sehen Sie es einmal so: Sie haben jetzt schon zweimal geträumt, genau hier, auf dieser Couch. War das so schlimm? Hat es irgendwelchen Schaden angerichtet?«
Orr schüttelte stumm den Kopf; er war zu niedergeschlagen für eine Antwort.
Haber redete weiter, und Orr versuchte, ihm seine Aufmerksamkeit zu schenken. Er redete jetzt von Tagträumen, ihrer Beziehung zu den anderthalbstündigen Traumzyklen der Nacht, ihrem Nutzen und Sinn. Er fragte Orr, ob ihm eine bestimmte Art von Tagtraum besonders zusagen würde. »Zum Beispiel«, sagte er, »träume ich häufig von Heldentum. Ich bin der Held. Ich rette ein Mädchen, oder einen Astronautenkollegen, eine belagerte Stadt oder einen ganzen verdammten Planeten. Messiasträume, Großtatenträume. Haber rettet die Welt! Sie machen ziemlich viel Spaß — solange ich ihnen den Stellenwert beimessen kann, der ihnen zukommt. Wir brauchen alle die Seelenmassage, die uns Tagträume geben, aber wenn wir anfangen, sie für bare Münze zu nehmen, dann sind unsere Realitätsparameter ein bißchen durcheinander geraten … Dann gibt es die Tagträume vom Typ Südseeinsel — viele kleine Angestellte mittleren Alters haben sie. Und die vom Typ Edelmut-Leiden-Märtyrer, und die verschiedenen romantischen Phantasien der Pubertät, und die sadomasochistischen Tagträume, und so weiter. Die meisten Menschen sind mit allen Varianten vertraut. Wir waren schon fast alle einmal in der Arena und haben den Löwen getrotzt, mindestens einmal, oder haben eine Bombe geworfen und unsere Feinde vernichtet, oder eine durchgeistigte Jungfrau von einem sinkenden Schiff gerettet oder Beethovens zehnte Symphonie für ihn komponiert. Welchen Typ bevorzugen Sie denn?«
»Oh — Flucht«, sagte Orr. Er mußte sich wirklich zusammenreißen und diesem Mann antworten, der doch versuchte, ihm zu helfen. »Ab durch die Mitte. Fort von …«
»Fort von Ihrem Job, von der tagtäglichen Tretmühle?«
Das schien ihm Haber nicht zu glauben, daß er mit seinem Job zufrieden war. Haber war offenkundig von einem ausgeprägten Ehrgeiz erfüllt und konnte sich nicht vorstellen, daß das nicht auf alle Männer zutraf.
»Eigentlich mehr von der Stadt, den Menschenmassen, meine ich. Überall zu viele Leute. Die Schlagzeilen. Alles.«
»Südsee?« fragte Haber mit seinem Bärengrinsen.
»Nein. Hier. Ich habe keine besonders ausgeprägte Phantasie. Ich tagträume davon, daß ich eine Blockhütte irgendwo abseits der Städte besitze, vielleicht sogar im Küstenstreifen, wo noch einige der alten Wälder existieren.«
»Schon mal daran gedacht, tatsächlich eine zu kaufen?«
»Der Morgen Land kostet in den billigsten Naherholungsgebieten, unten in der Wüste des südlichen Oregon, achtunddreißigtausend Dollar. Für ein Areal mit Meeresblick reichen die Preise bis zu vierhunderttausend pro Parzelle.«
Haber gab einen Pfiff von sich. »Ich sehe, Sie haben schon mit dem Gedanken gespielt — und sind bei Ihren Tagträumen geblieben. Gott sei Dank sind die wenigstens umsonst, hm! Und, fühlen Sie sich fit für einen weiteren Versuch? Wir haben noch fast eine halbe Stunde.«
»Könnten Sie …«
»Was, George?«
»Mir die Erinnerung lassen?«
Haber holte zu einer seiner wortreichen Ablehnungen aus. »Wie Sie sicher wissen, wird alles, was während einer Hypnose erlebt wird, einschließlich aller erteilten Anweisungen, normalerweise von einem Mechanismus blockiert, der auch die wache Erinnerung an neunundneunzig Prozent unserer Träume blockiert. Würden wir diese Blockierung aufheben, würden wir Ihnen zu viele widersprüchliche Befehle hinsichtlich einer recht diffizilen Sache geben, nämlich des Inhalts der Träume, die Sie noch nicht geträumt haben. Daran — an den Traum — können Sie sich erinnern, dafür sorge ich. Aber ich möchte nicht, daß die Erinnerungen an meine Suggestionen sich mit den Erinnerung an den Traum, den Sie tatsächlich träumen, vermischen. Ich möchte beide strikt getrennt halten, damit ich einen klaren und eindeutigen Bericht darüber bekomme, was Sie geträumt haben, und nicht, was Sie Ihrer Meinung nach hätten träumen sollen. Klar? Sie können mir vertrauen, wissen Sie. Ich bin mit im Spiel, um Ihnen zu helfen. Ich werde nicht zu viel von Ihnen verlangen. Ich werde Sie drängen, aber nicht zu fest oder zu schnell. Ich werde Ihnen keine Alpträume bescheren! Glauben Sie mir, ich möchte diese Sache durchschauen und verstehen, genau wie Sie. Sie sind ein intelligentes und kooperatives Subjekt, und ein tapferer Mann, daß Sie diese Ängste so lange allein mit sich herumgeschleppt haben. Wir bringen es zu Ende, George. Glauben Sie mir.«
Orr glaubte ihm nicht rückhaltlos, aber der Arzt duldete so wenig Widerspruch wie ein Priester; und außerdem wünschte er sich, er könnte ihm glauben.
Er sagte nichts mehr, sondern legte sich wieder auf die Couch und fügte sich der Berührung der großen Hand an seinem Hals.
»Okay! Da sind Sie wieder! Was haben Sie geträumt, George? Raus damit, frisch vom Grill!«
Orr kam sich verwirrt und albern vor.
»Etwas über die Südsee … Kokosnüsse … Kann mich nicht erinnern.« Er rieb sich den Kopf, kratzte sich unter dem kurzen Bart, holte tief Luft. Er sehnte sich nach einem Schluck kalten Wasser. »Dann … träumte ich, daß Sie mit John Kennedy, dem Präsidenten, die Alder Street entlang gingen, wenn ich mich nicht irre. Ich folgte Ihnen gewissermaßen, ich glaube, ich habe etwas für einen von Ihnen getragen. Kennedy hatte den Regenschirm aufgespannt — ich sah ihn im Profil, wie auf den alten Fünfzigcentstücken —, und Sie sagten: ›Den werden Sie nicht mehr brauchen, Mr. Präsident‹, und nahmen ihm den Schirm aus der Hand. Er schien sich darüber zu ärgern und sagte etwas, das ich nicht verstehen konnte. Aber es hatte aufgehört zu regnen, die Sonne kam heraus, und daher sagte er: ›Sieht so aus, als hätten Sie recht.‹ … Es hat aufgehört zu regnen.«
»Woher wissen Sie das?«
Orr seufzte. »Sie werden schon sehen, wenn Sie ins Freie kommen. Ist das alles für heute nachmittag?«
»Ich kann jederzeit weitermachen. Der Staat übernimmt die Rechnung, wissen Sie!«
»Ich bin sehr müde.«
»Also gut, dann machen wir eben für heute Schluß. Hören Sie, was halten Sie davon, wenn wir unsere Sitzungen nachts stattfinden lassen? Wir lassen Sie ganz normal schlafen, wenden die Hypnose nur an, um den Trauminhalt zu suggerieren. Ihr Arbeitstag würde nicht beeinträchtigt werden, und mein Arbeitstag ist ohnehin in der Hälfte aller Fälle die Nacht; Schlafforscher schlafen nur selten! Wir würden eine Menge Zeit gewinnen und könnten auf traumunterdrückende Medikamente verzichten. Möchten Sie einen Versuch wagen? Freitagnacht?«
»Da habe ich eine Verabredung«, sagte Orr, selbst erschrocken wegen dieser Lüge.
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