Gegen drei Uhr früh war das Wasser gereinigt. Der Behälter, aus dem es ausgelaufen war, hatte drei Lecks. Sein Beharrungsvermögen hatte ihn aus der Lagerung gerissen. Er war mit der Vorderseite gegen einen Hauptspanten des Panzers geprallt. Statt ihn zu schweißen, pumpten sie in der Eile das Wasser einfach in den oberen leeren Behälter. Unter normalen Bedingungen wäre eine solche asymmetrische Verteilung der Ladung undenkbar gewesen, aber die Rakete war ja vorläufig nicht startbereit. Nachdem das Wasser ausgepumpt war, bliesen sie die Bodenräume mit flüssiger Luft durch. An den Wänden blieb etwas radioaktiver Niederschlag zurück, aber dem maßen sie keine Bedeutung bei. Vorläufig beabsichtigte niemand, dort hineinzugehen. Nun kam das Wichtigste — das öffnen der Lastenklappe. Die Kontrollichter zeigten die volle Leistungsfähigkeit des Schlossmechanismus an, dennoch wollte er sich beim ersten Versuch nicht öffnen. Sie schwankten einen Augenblick, ob sie den Druck in den hydraulischen Vorrichtungen nicht verstärken sollten, aber der Ingenieur entschied, dass es besser sei, wenn sie die Klappe von außen untersuchten, und so gingen sie nach oben.
Es war nicht leicht, an die Klappe zu gelangen. Sie befand sich unten am Rumpf, vier Meter über der Erde. Sie errichteten aus den Metallbruchstücken ein provisorisches Gerüst. Das dauerte nicht lange.
Der Automat schweißte die stählernen Fragmente zu einem unförmigen, aber haltbaren Laufsteg zusammen, und die Besichtigung im Lichte der Taschenlampen und des Scheinwerfers auf dem Ständer konnte beginnen. Der Himmel war im Osten grau geworden, der Feuerschein war nicht mehr zu sehen. Die Sterne verblaßten allmählich, und von den Keramitplatten des Rumpfes tropfte dicker Tau. „Komisch“, sagte der Physiker, „der Mechanismus ist in Ordnung, die Klappe sieht wie Gold aus und hat nur den einen Fehler, dass sie sich nicht öffnen läßt.“
„Ich liebe keine Wunder“, versetzte der Kybernetiker und schlug mit dem Feilengriff gegen das Metall. Der Ingenieur schwieg. Er war wütend. „Moment“, sagte der Koordinator, „vielleicht versuchen wir es einmal mit der alten, durch Generationen erprobten Methode…“ Er griff nach dem Achtkilohammer, der auf dem Gerüst vor seinen Füßen lag. „Man kann den Rand abklopfen, aber nur einmal“, warnte der Ingenieur nach einigem Zögern. Er schätzte solche Methoden nicht. Der Koordinator schielte zu dem schwarzen Automaten hinüber, der sich wie ein kantiges Denkmal imMorgengrauen abzeichnete, wie er so den Laufsteg mit der Brust stützte, wog dann den Hammer in den Händen, holte aus und schlug zu. Er schlug gleichmäßig. Ohne weit auszuholen, setzte er einen Schlag neben den anderen, jeden ein paar Zentimeter weiter. Der Panzer antwortete mit einem kurzen, vollen Laut. Es war unbequem, nach oben auszuholen, aber die physische Anstrengung tat dem Koordinator gut. Plötzlich mischte sich in das gleichmäßige Hämmern ein anderer Laut — ein tiefes Stöhnen, als hätte sich der Boden unter ihnen selbst gemeldet. Der Koordinator hielt mit dem Hämmern inne. Sie vernahmen ein durchdringendes Pfeifen in der Höhe, dann ein dumpfes Krachen.
Das Gerüst erzitterte.
„Runter!“ schrie der Physiker. Sie sprangen nacheinander vom Gerüst. Nur der Automat rührte sich nicht. Es war schon ziemlich hell. Die Ebene und der Himmel hatten die Farbe von Asche angenommen. Ein zweites brummendes Stöhnen ertönte. Das durchdringende Pfeifen schien auf sie zu zielen. Sie duckten sich instinktiv, zogen die Köpfe ein. Noch standen sie im Schutz des großen Raketenrumpfes. Einige hundert Meter weiter spritzte der Boden in einem senkrechten Geysir hoch. Der Laut, der damit verbunden war, klang eigenartig schwach, wie gedämpft. Sie liefen zum Tunnel. Der Automat folgte ihnen. Der Koordinator und der Ingenieur blieben eine Weile im Schutz der Brustwehr stehen. Der ganze Horizont im Osten stöhnte von unterirdischem Donner. Ein Tosen rollte über die Ebene, das Pfeifen schwoll an, wurde machtvoller, schon waren keine einzelnen Töne mehr zu unterscheiden. Der Himmel spielte Orgel, es war, als stürzten Rudel von Überschalljägern vom Zenit auf sie herab. Das ganze Vorfeld war übersät von kleinen Sandfontänen, sie zeichneten sich schwarz vor dem bleiernen Hintergrund des Himmels ab. Der Boden erbebte immer von neuem. Von der Brustwehr rollten kleine Brocken in den Tunnel. „Eine völlig normale Zivilisation“, meldete sich die Stimme des Physikers aus der Tiefe. „Nicht wahr?“
„Entweder zu kurz oder zu weit gezielt“, murmelte der Ingenieur. Der Koordinator verstand ihn nicht, denn in der Luft zischte es ununterbrochen. Der Sand spritzte, aber die Fontänen näherten sich der Rakete nicht. So standen sie, bis über die Schultern verdeckt, mehrere lange Minuten. Es änderte sich nichts. Der grollende Donner am Horizont war in ein lang anhaltendes, baßtiefes, fast gleichmäßiges Tosen übergegangen, doch man hörte keine Explosionen. Die Geschosse gingen fast lautlos nieder.
Der hochgeschleuderte Sand sank zurück auf die Erde. Es war bereits so hell, dass sie die kleinen Erhebungen der Einschußstellen sehen konnten. Sie glichen Maulwurfshügeln. „Reicht mir mal das Fernglas“, rief der Koordinator in den Tunnel. Wenig später hielt er es in der Hand. Er sagte nichts, doch sein Staunen wuchs immer mehr. Anfangs hatte er angenommen, die angreifende Artillerie wolle sich einschließen. Er suchte mit dem Fernglas den ganzen Horizont ab und sah auf allen Seiten Treffer einschlagen, bald näher, bald weiter, aber keiner näher als zweihundert Meter. „Also was ist? Nichts Atomares, wie?“ drang es gedämpft aus dem Tunnel. „Nein!“ schrie der Koordinator zurück.
„Siehst du? Lauter Blindgänger!“ flüsterte ihm der Ingenieur ins Ohr.
„Ich sehe!“
„Sie kreisen uns von allen Seiten ein.“
Er nickte. Jetzt beobachtete der Ingenieur mit dem Fernglas das Vorfeld. Jeden Augenblick konnte die Sonne aufgehen. Wäßriges Blau füllte den blassen Himmel, der wie leergewaschen aussah. Auf der Ebene rührte sich nichts, abgesehen von den Federbüschen der Einschläge, die den Hügel, in dem die Rakete steckte, mit einem buschigen, immer wieder in sich zusammenfallenden Kreis wie mit einer seltsam flimmernden Hecke umgab. Der Koordinator faßte einen Entschluß. Er kroch aus dem Tunnel und war mit drei Sätzen auf der Hügelspitze. Dort warf er sich flach auf den Boden und schaute in dieRichtung, die er vom Tunnel aus nicht sehen konnte. Das Bild, das sich ihm von dort aus bot, war ähnlich: Ringsum wuchs eine breite Sichel von Einschlägen mit staubenden und spritzenden Explosionsfontänen aus dem dürren Boden. Jemand warf sich mit Schwung neben ihn in den trockenen Sand. Es war der Ingenieur. Sie lagen dicht nebeneinander und beobachteten das Geschehen. Schon hörten sie den ununterbrochenen Donner kaum noch, der vom Horizont in eisernen Wogen heranströmte. Bisweilen schien er sich zu entfernen, das lag jedoch an dem Wind, den die ersten Sonnenstrahlen geweckt hatten. „Das sind gar keine Blindgänger!“ rief der Ingenieur. „Was dann?“
„Ich weiß es nicht. Warten wir ab…“
„Gehen wir in die Rakete!“
Sie liefen den Hang hinunter. Nacheinander sprangen sie in den Tunnel. Den Automaten ließen sie zurück. Sie begaben sich in die Bibliothek. Dort war kaum etwas zu hören. Sogar von dem Beben des Bodens spürte man fast nichts. „Was nun? Wollen die uns etwa weiter so belagern? Um uns auszuhungern?“ fragte der Physiker erstaunt, nachdem alle berichtet hatten, was ihnen aufgefallen war.
„Weiß der Teufel. Ich möchte mir so ein Geschoß mal aus der Nähe ansehen“, sagte der Ingenieur.
„Wenn die eine Pause machen, lohnt es sich vielleicht, mal nach oben zu gehen.“
„Der Automat wird es tun“, entschied der Koordinator kühl. „Der Automat?“ Der Kybernetiker unterdrückte ein Stöhnen.
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