Jetzt sah er sie auch. Nur wenige Meter von Tobias entfernt steckte eine Frau im Morast und drohte wie er zu versinken.
Nur noch ihr Kopf schaute heraus. Eine bunte Kappe war halb von ihren Haaren gerutscht, und lange schwarze Strähnen hingen in den sumpfigen Matsch. Todesangst hatte das schöne Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Sie wurde unaufhaltsam in die Tiefe gezogen. Sie schrie.
»Mein Gott, das ist ja Ellen«, schrie Micha und war wie gelähmt.
»Du kennst sie?« fragte Claudia.
»Ja, ich meine, nein, nicht richtig.« Er war völlig verwirrt. Wie kam Ellen hier her? »Das ist Sonnenbergs Assistentin.«
Herzog war kreidebleich, seine Lippen zitterten. Als Micha ihn ansah, löste sich endlich seine Erstarrung.
»Wir können doch hier nicht tatenlos herumstehen. Wir müssen ihnen helfen«, schrie er Herzog an und stürzte wieder los.
Er wandte sich nach rechts, weil er geradeaus nicht weiterkam. Ein matschiger Abhang fiel dort steil zum Ufer ab. Aber kaum hatte er sich ein paar Schritte in das Dickicht entfernt, verlor er die Orientierung, wußte nicht mehr genau, wohin er sich wenden sollte. Überall versperrte dichtes Gestrüpp den Weg und den Blick auf den See. Immer wieder hörte er Tobias schreien, und weil der Weg, den ihm seine Stimme wies, durch ein meterbreites Geflecht armdicker Luftwurzeln blockiert war, trieb ihn seine Panik zu aussichtslosen und schmerzhaften Versuchen, mal hier, mal dort durch die verfilzte Vegetation zu brechen. Als er sich schließlich verzweifelt umdrehte, um es an einer anderen Stelle zu versuchen, blickte er wieder in Herzogs blasses und verschwitztes Gesicht. Er mußte ihm gefolgt sein. Claudia war nirgendwo zu sehen.
»Was ist los?« fragte Micha atemlos und blickte gehetzt um sich. »Irgendwie muß man doch dahin kommen.«
»Es hat keinen Sinn. Es ist zu spät!« Herzog schüttelte nur stumm den Kopf und ließ das Kinn sinken.
Plötzlich ärgerte Micha sich über Herzogs Untätigkeit. Sie machte ihn rasend. »Du kennst dich doch hier aus. Warum ziehst du ihn nicht heraus, he? Stehst hier wie angewachsen«, brüllte er, drängte ihn beiseite und schlug sich zu einer Stelle durch, von wo aus er auf den See gucken konnte.
»Tobias!«
Nichts! Er fand in dem unübersichtlichen Pflanzen- und Wurzelgewirr kaum den Ast wieder, an dem Tobias gehangen hatte. Aber wo vorher noch sein rotes T-Shirt geleuchtet hatte, war nichts mehr, nur eine unbewegliche schwärzliche Masse. Auch der andere Kopf war verschwunden.
»Tobias!« schrie er noch einmal, so laut er konnte. »Ellen!«
Im nächsten Moment brachen Pencil und Claudia durch das Unterholz. »Was ist denn ...«, sie verstummte, als sie sein Gesicht sah.
Er starrte auf die Stelle, wo er Tobias das letzte Mal gesehen hatte, und er glaubte kurz eine Hand zu erkennen, die hilfesuchend aus dem Schlamm ragte.
Wenig später knackte es in den Büschen links von ihm, und einen kurzen, wunderbaren Moment lang dachte er, das sei bestimmt Tobias, sein Freund, der sich mit letzter Kraft herausgezogen hatte und von oben bis unten mit stinkendem Morast besudelt und seinem charakteristischen Grinsen auf dem Gesicht aus dem Dschungel treten würde, mit Ellen an seinem Arm.
Aber es war nur Herzog, resigniert, den Kopf gesenkt, mit hängenden Schultern, gebeugtem Rücken. Als Claudia ihn so sah, begriff sie, daß etwas Furchtbares geschehen sein mußte. Kraftlos ließ Herzog sich fallen, plötzlich ein alter, gebrochener Mann, hilflos, machtlos. Er begann zu schluchzen. Sein Oberkörper zuckte.
Micha hockte sich neben ihn, wollte einen Arm um seine Schultern legen, wollte ihn beruhigen, sich entschuldigen, weil er ihn so angefahren hatte, aber seine Hände zitterten zu stark.
Tobias tot?
»Jetzt sagt mir doch endlich, was passiert ist«, sagte Claudia leise. Sie hockte sich vor Herzog und Micha auf den Boden und schaute sie in ängstlicher Erwartung an.
Er wollte den Mund aufmachen, wollte erzählen, was er gesehen hatte, das verzerrte Gesicht, die Hand, diese furchtbaren Laute, die nicht mehr menschlich klangen, aber statt dessen brach er in Tränen aus, die ihm brennend über sein zerkratztes Gesicht liefen.
Dann wurde er wütend, schrecklich wütend.
Er sprang auf, gestikulierte auf den See hinaus und schrie mit tränenerstickter Stimme: »Dieser Vollidiot!« Wahllos schlug er mit beiden Händen nach irgendwelchen Blättern. »Warum mußte er da runterklettern, he? Könnt ihr mir das mal verraten? Dieser verdammte Scheißkerl, hatte er denn immer noch nicht genug?«
»Ist er ...?«
»Er ist in diesen Scheißsumpf gefallen. Er ist tot!« schrie er sie an, daß sie zusammenzuckte. Aber wußte er es denn sicher? Wo war der Beweis? Wahrscheinlich lebte Tobias da unten noch, versuchte noch immer verzweifelt, Sauerstoff in die Lungen zu bekommen, riß den Mund auf, um zu schreien, um zu atmen, um endlich wieder Luft zu holen, sein ganzer Körper, jede einzelne Zelle schrie nach Sauerstoff, und schluckte statt dessen diese widerliche, zähe, vorsintflutliche Pampe. Wie lange dauerte es, bis jemand erstickte? Hoffte er noch, daß ihn jemand wieder herauszog? Diese Hand .
Irgendwann, Micha bemerkte es kaum, tauchte Axt auf. Er sah unheimlich aus, heulte und war über und über mit stinkendem Schlamm bedeckt. In ihrer Mitte fiel er einfach in sich zusammen, schlug mit einem dumpfen Geräusch auf den weichen Waldboden und blieb dort von Weinkrämpfen geschüttelt liegen.
In Micha schlug die Wut ein wie ein Blitzschlag. »Hören Sie doch endlich auf zu flennen! Was soll denn das«, fuhr er Axt an, der gequält aufheulte. »Sie kannten ihn doch gar nicht. Es widert mich an!«
Micha sah rot. Noch einmal schlug und trat er auf die Pflanzen ein, die sich in seiner Reichweite befanden, versuchte seine unbeschreibliche Wut loszuwerden. Wut auf wen? Er wußte es nicht. Auf Tobias? Herzog? Den jammernden Axt? Auf den Wald? Auf diese Reise, den ganzen Wahnsinn?
Schweigend, jeder in sich selbst gekehrt, hockten sie da. Hin und wieder war ein Schluchzen zu hören, jemand räusperte sich oder schneuzte sich die Nase. Pencil war verschwunden. Er hatte sich irgendwohin verkrochen.
Warum machte er sich nur solche Vorwürfe? Hätte er sie denn noch retten können? Wohl kaum, alles war viel zu schnell gegangen. Und Herzog? Was mochte in ihm vorgehen? Auch er gab sich die Schuld, das war offensichtlich. Er war am Boden zerstört, kaum noch als der starke, Respekt einflößende Eozän wiederzuerkennen, den sie vor Wochen getroffen hatten. Es schien schon eine Ewigkeit her zu sein. Und warum führte Axt ein solches Theater auf? Er wimmerte und hatte sich auf dem lehmigen Waldboden wie ein Embryo zusammengekrümmt. Und was war mit Ellen? War sie etwa die Person, die sie gesucht hatten? Ausgerechnet Ellen?
Nein, Tobias war selbst schuld gewesen. Sein eigener Übermut hatte ihn in den Tod getrieben. Es war nahezu ein Wunder, daß es ihn erst jetzt erwischt hatte. So ein Irrsinn, sich mit nur einem gesunden Arm auf eine solche Auseinandersetzung einzulassen. Oder hatte er sich die Kampfgeräusche nur eingebildet? Aber so war Tobias eben. Micha wußte es, wußte es genau, aber wieder und wieder liefen die Ereignisse vor ihm ab, und er suchte verzweifelt nach dem Fehler, seinem Fehler. War Tobias überhaupt sein Freund gewesen? Er hatte ihn noch vor wenigen Tagen zum Teufel gewünscht. War es überhaupt Trauer, was er empfand?
Claudia konnte noch nicht einmal weinen, so schockiert war sie. Das kam erst später. Sie saß nur stumm da und starrte den Boden an, streckte die Hand nach Pencil aus, als dieser angetrottet kam und sich neben sie auf den Boden legte.
Micha hatte genug. Er wollte niemanden mehr sehen, mit niemandem reden, und nur noch weg von diesem Ort, der ihm noch vor kurzem wie das Paradies vorgekommen war. In Wirklichkeit hatten sie hier ihre ganz persönliche Hölle gefunden. Wortlos stand er auf und schlug den Weg zum Fluß ein. Der Pfad, den Herzog in den Dschungel geschlagen hatte, war deutlich zu erkennen. Er blickte sich nicht um, ob jemand folgte, sondern lief einfach los, völlig in Gedanken versunken.
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