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Wie bucht man eine Zeitreise?
Peter und der Geist, Teil 2
Paul Kavaliro
Copyright: © 2012 Paul Kavaliro
published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-3-8442-2956-1
Die Geistergestalt ist groß. Ihr weites dunkles Gewand schlägt im Wind, als sie vor Heidi steht. Heidi weicht zurück. Sie will wegrennen, aber gerät dabei ins Straucheln. Der Geist folgt ihr. Er streckt seine dürren, Krallen-gleichen Finger nach ihr aus. Heidi will um Hilfe rufen, bringt aber keinen Ton heraus. Verzweifelt greift sie auf der Suche nach einer Waffe um sich. Endlich bekommt sie einen Gegenstand zu fassen und will mit aller Wucht zuschlagen …
„Kind, so wach doch auf!“, sagt eine sanfte und besorgte Stimme. Heidi öffnet die Augen und schreckt aus ihrem Bett hoch. In ihrer Hand hält sie den Wecker, der sonst auf dem Nachttisch steht, und jetzt sein angsterfülltes Wecksignal ablässt. Vor ihr sitzt Frau Persig, ihre Pflegemutter, mit eingezogenem Kopf – aus Respekt vor dem Wecker – und hält ihre Hand. Eltern wissen eben, was Kinder brauchen. Heidi erfährt das jeden Tag, seit sie bei Persigs wohnt. Ihre Mutter streicht ihr über den Kopf. „Schlecht geträumt?“ Heidi nickt.
Während der Morgenroutine kommt Heidi wieder etwas zur Ruhe. Herr Persig begleitet sie zur Tür und wartet, bis Peter Neumann vorbeikommt. Peter ist Heidis Klassenkamerad und guter Freund. Es ist noch nicht so lange her, da hat er sie gemeinsam mit Gerd Hauptmann, dem Geisterwächter, aus dem Jahrhunderte währenden Verlies ihres Geisterdaseins herüber ins Menschenreich zurückgeholt. Jetzt führt sie ein normales Leben und in diesem Leben sind Peter und Heidi Schüler der siebenten Klasse und Gerd Hauptmann ist ihr Deutschlehrer.
Doch diese verstörenden Träume halten Heidis Erinnerung an ihr früheres Leben wach. Sie zerren wie verrostete Ketten an ihr und rauben ihr den Schlaf. „Müde?“, fragt Peter, als er die Erschöpfung in Heidis Gesicht sieht. „Geht schon“, erwidert Heidi bemüht, kein Drama daraus zu machen.
Auf dem Weg zur Schule erzählt sie Peter von ihrem Traum. Das tut gut. Die Last, die auf ihrer Schulter wie eine gedachte, zentnerschwere Krähe sitzt, wird dadurch leichter. Peter versucht Heidi aufzumuntern: „Stell dir vor, du hättest deine Mutter mit dem Wecker niedergestreckt.“ Heidi zeigt immerhin ein mildes Lächeln. Peter hat die Krähe fürs Erste verscheucht.
So weit, so gut. Doch Peter spürt, dass so ein kleiner Scherz nicht reicht. „Das ist schon das dritte Mal in diesem Monat“, sagt er nachdenklich. „Schon letzte Woche hast du mir von diesem Geist aus dem Traum erzählt und dann vor zwei Tagen wieder.“ Heidi fühlt sich wie ein Patient, dem der Arzt eine unangenehme Diagnose mitteilt. Stimmt, die Abstände zwischen den Albträumen werden kürzer und die Träume immer intensiver, zermürbender. „Wir müssen mit Hauptmann reden“, bestimmt Peter. Heidi nickt. Es ist wohl das Beste.
Gerd Hauptmann empfängt Peter und Heidi am Nachmittag in der Bibliothek. Geschlaucht lässt er sich in einen Stuhl fallen. Seit die beiden ihm geholfen haben, sein Lachen wiederzufinden, arbeitet er angestrengt an seiner Menschlichkeit. Aber die raue Fassade des gestrengen Deutschlehrers, den er an der Schule gibt, kann er nicht so einfach abstreifen, wie eine Schlange ihre Haut. Nur hier bei Peter und Heidi gelingt ihm das. Zu ihnen hat er eine enge Verbindung und empfindet eine besondere Verantwortung.
Er hört sich die Geschichte der Albträume und der Bedrohung durch den Geist an. Danach setzt er sich wortlos an einen der Bibliotheks-Rechner. Tausend Gedanken scheinen in seinem Kopf zu kreisen, denn er zieht dabei die Stirn in Falten. Peter und Heidi wissen, dass das kein gutes Zeichen ist. Gerd Hauptmann meldet sich an einem Online-Portal an. Geschmeidig fliegen seine Finger über die Tastatur. Peter, der sich für einen leidlichen Online-Auskenner hält, reibt sich die Augen. Dieses Portal hat er noch nie gesehen. Hauptmann ahnt die fragenden Blicke in seinem Rücken. „Das ist so eine Art Facebook für Geisterwächter“, erklärt er knapp, „nur geheimnisvoller.“ Was Geisterwächter sind, das wissen Peter und Heidi. Sie halten die Gespenster im Zaum, die Böses im Schilde führen oder Unfug treiben.
Gerd Hauptmann vergräbt sich im Portal in einer Stichwortsuche und danach in einem Wust von Informationen und Diskussionen. Minuten vergehen, bis der Lehrer einigermaßen Ordnung in seine Gedankengänge gebracht hat. „Ich habe von solchen Albträumen gelesen, von denen du berichtest“, dreht er sich zu Heidi um. Eine seltsame Furcht liegt in seiner Stimme. „Andere Geisterwächter berichten davon.“ Dann zögert er. „Das alles kann nur eins bedeuten“, sagt er schließlich. „Deine Träume ...“, ringt er um die richtigen Worte. Er bricht den Satz ab, fängt neu an: „Deine Träume sind Visionen der Zukunft.“
Kalle blinzelt in die Sonne. Sie ist schon kurz über dem Horizont angekommen. Das ist das Zeichen, dass er bald nach Hause gehen kann. Ein Blick auf seine Armbanduhr bestätigt seine Hoffnung. Kalle stützt die Hände in die Hüften. Er hat heute einiges geschafft, hier in der Sandgrube.
Noch vor ein paar Monaten ist es für ihn der Ort waghalsiger Mopedfahrten gewesen. Heute ist er mit seinem Fahrrad hier und leistet gemeinnützige Arbeit. Kalle ist „auf Bewährung“, nachdem ihn die Polizei erwischt hat – mit Moped, aber dafür ohne Führerschein. Auch seine Jagd durch die Straßen ist nicht geheim geblieben.
Seitdem ist er nicht mehr angeeckt, sondern befreit die Sandgrube von Unrat, den die Zeit und sorglose Menschen hier angesammelt haben: Schrott, Glas, alte Baustoffe. Gleich nachher wird er das Werk seines Nachmittags dem Kontrolleur zeigen, der abends vorbeikommt und beflissen Kalles Stunden abhakt.
Kalle packt an, das gibt Muskeln. Andere gehen dafür extra ins Fitnessstudio. Das hat Kalle früher auch getan und hat den Macho raushängen lassen. Jetzt hat er dafür keine Zeit und auch seine Eltern haben die Geldzuwendung an ihn gekürzt. So kann er sich solchen Luxus wie ein Training im Studio abschminken. Stattdessen heißen seine Trainingsgeräte verrostete Eisenrohre oder zerbrochene Ziegel, die er mit Schwung in einen Container wirft, den ihm die Stadt Obertrolla hingestellt hat.
An diesen Nachmittagen ist Kalle mit sich im Reinen. Was er getan hat, hat er getan: das Moped, das Imponiergehabe. War es all den Ärger wert? Eher nicht. Aber jetzt trägt er den Ärger ab, wie einen Haufen Pflastersteine, Stück für Stück. Und er hat keine Lust auf neuen Ärger. Also räumt er auf und der Kontrolleur kommt vorbei und macht seine Notiz und klopft Kalle auf die Schulter. Das ist fast schon ein bisschen cool, von wegen Belohnung und Selbstwertgefühl und so.
Doch da ist auch dieser unangenehme Druck: macht Kalle seine Sache nicht ordentlich, so hat er Aussicht auf noch mehr Bewährung, auf noch mehr Arbeit, auf eine weitere alte verlassene Sandgrube, die er aufräumen darf. Bei diesen Gedanken kommt in Kalle die kalte Wut hoch. Was war das für eine geile Zeit – damals mit dem Zauberbuch, das er von Hauptmann geklaut hatte. Kalle war der Größte, er konnte Moped fahren wie ein junger Gott und die Polizei hat noch nicht einmal seine Rücklichter zu sehen bekommen. Laura war bei ihm und alles war gut. Das änderte sich, als Kalle das Zauberbuch wieder abgeben musste, an den fiesen Hauptmann. Der steckte mit Peter und Heidi, diesen Strebern, unter einer Decke und die Drei kleben heute auch noch wie Pech und Schwefel zusammen – einfach widerlich! Will Kalle Rache? Ja, es gibt Momente, in denen er Rache will.
„Neumann, du Versager!“, schreit Uli. Und auch die anderen Jungs aus der Fußballmannschaft wollen Peter am liebsten mit ihren Blicken aufspießen. Vor einer Minute ist er zum Elfmeter angetreten. Um ihn herum hat das Publikum aus tausend begeisterten Seelen gejohlt. Vor ihm steht das Fußballtor – groß wie eine Häuserfassade. Er ist angelaufen und hat einen festen Schuss abgefeuert, geradewegs – drüber! Jetzt kommen alle seine Mitspieler gerannt, schubsen ihn zu Boden, mitten in den Schlamm. Peter versucht vom Boden wieder hochzukommen. Es gelingt ihm nicht. Er fällt zurück in den Schlamm. Seine Mitspieler fluchen, seine Gegenspieler lachen.
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