Kalle mustert die Gestalt, die ihn eben noch am Arm gegriffen hat. Sie ist von großer Statur. Ihr bleiches Gesicht versteckt sie halb unter einer Kapuze, die zu einem weiten dunklen Gewand gehört. Erlaubt sich hier jemand einen Scherz? In einer Mönchskutte bei dem Wetter? Ist der Kontrolleur heute zu früh dran und kommt auf dem Weg zum Fasching bei ihm vorbei? Doch dafür ist nicht die rechte Jahreszeit und überhaupt erstirbt dieser Gedanke vollends, als der Typ anfängt zu reden. „Hab keine Angst“, beschwichtigt er den verunsicherten Kalle. Seine Stimme ist dabei so tief, als käme sie geradewegs aus einer schaurigen frostigen Gruft.
Der Mann fixiert Kalle mit seinem Blick, den er aus Echsen-gleichen Pupillen abschießt. Doch im nächsten Moment wendet er sich ab, halb entschuldigend für den scharfen Blick. Er genießt die Landschaft, so wie ein Bergwanderer, der den Gipfel nach kräftezehrendem Aufstieg erreicht hat und die Aussicht als Belohnung in Empfang nimmt. Es scheint, als ob dieser Wanderer eine Weile auf Reisen gewesen ist und jetzt zurückkehrt.
Die Gestalt geht ein paar Schritte und setzt sich dann auf einen Stapel noch verwendbarer Ziegelsteine, den Kalle beim Aufräumen angehäuft hat. Mit einer Handbewegung lädt sie Kalle ein, sich danebenzusetzen und Bekanntschaft zu schließen. Kalle zögert. Wieder richtet die Gestalt ihren durchdringenden Blick auf ihn. Der wirkt: Kalle setzt sich wie ferngesteuert in Bewegung. „Ich habe etwas für dich, Karlheinz“, flüstert der Kuttenträger. „Woher kennen Sie meinen Namen?“, fasst Kalle etwas Mut, schließlich scheint ihn sein Gesprächspartner zu kennen.
„Ich weiß so einiges“, antwortet Kalles Überraschungsgast vielsagend und winkt ab. „Ich bin schon lange hier in der Gegend und kenne viele Leute. Einige von ihnen sind harmlos, andere sind mir in die Quere gekommen.“ Jetzt steht er auf und geht rastlos auf und ab. „Es gibt welche, die habe ich bestraft und es gibt andere, die haben es mir heimgezahlt. Ich musste eine Weile weggehen, aber jetzt komme ich nach Hause.“
Damit setzt er sich wieder neben Kalle. Die nächsten Worte flüstert er fast: „Und ich bin schon in den Köpfen von denjenigen, die mir in die Quere gekommen sind, und in den Köpfen ihrer Freunde. Du kennst sie.“
Kalle wähnt sich im falschen Film: ein Wildfremder erzählt ihm seine Geschichte und labert von einem Angebot, von Verbannung, Rückkehr und Köpfen und überhaupt macht er keinen sonderlich vertrauenswürdigen Eindruck. Aber irgendetwas scheint Kalle an seinem unbequemen Sitz auf dem Steinstapel festzuhalten; er kann es nicht genau sagen. Der Sanduhr und auch diesem Kuttenwesen haften eine seltsame Anziehungskraft an.
Die Gestalt fährt fort: „Du kennst Gerd Hauptmann.“ Kalle nickt. „Du kennst auch Heidi und Peter.“ Kalle nickt wieder. „Sie haben dir das Buch und dein Leben im Sonnenschein deiner Clique geraubt.“ Kalle schlägt den Blick nieder. „Siehst du, und ich biete dir die Rückfahrkarte in dein früheres Leben.“ Ein Windhauch zerrt an der Kapuze, die Gestalt zieht sie zurecht, so als fürchte sie einen zu genauen Blick. Kalle zieht die Augenbrauen hoch, als wollte er ein Fragezeichen auf seine Stirn malen: „Wie soll das gehen?“ – „Erinnerst du dich an das Buch von Hauptmann?“
Und ob sich Kalle daran erinnert! Das enthielt viele coole Zaubersprüche und schoss Kalles Fähigkeiten in neue Sphären empor. Es ließ ihn sein Moped beherrschen. Mit ihm war Kalle der King. „Das beschaffe ich dir“, sagt das Wesen. Kalle zweifelt: „Aber es ist sicher gut versteckt!“ Sein Gegenüber winkt ab: „Ich habe viele Möglichkeiten.“ Und schon fährt er seine dürre Hand aus und richtet sie auf die einige Meter entfernte Holzkiste, die bei Kalles Sanduhren-Befreiungsversuch kaputtgegangen ist. Wie von Geisterhand fügen sich die zerschlissenen Teile zu einem heilen Ganzen zusammen. Zum krönenden Abschluss fliegt die Kiste wie von einem unsichtbaren Bogen geschnellt in die Hand der Gestalt. Sie gibt sie weiter an Kalle, für die Sanduhr.
Kalle wagt es nicht zu fragen, wer oder was sein Gegenüber ist. Es könnte ein Geist, ein Gespenst, ein Kobold, vielleicht gar ein Vampir sein … „Und was wollen Sie von mir dafür?“, ahnt Kalle den Haken. Der Kuttenmann zeigt wortlos auf die Sanduhr. „Aber warum nehmen Sie sie sich nicht einfach?“ – „Ich bin ein Geist. Ich kann vieles tun, aber nicht alles.“ Jetzt klingt er wie jemand, der zu Hause den Müll rausbringen soll, aber keine Lust hat. Doch Kalle dreht diesem respektlosen Gedanken sofort den Strom ab. Schließlich steht ein Geist vor ihm! Und der tritt mit düsterer Würde auf.
Jetzt steht er auf und blickt wieder in die Landschaft. Doch schon im nächsten Moment dreht er sich wieder um und redet auf Kalle ein: was er da gefunden habe, sei ein in früheren Zeiten verlorener Schatz, ein überaus mächtiges Werkzeug, ebenso mächtig wie Hauptmanns Buch. Es sei eine Sanduhr, mit deren Hilfe man sich in der Zeit bewegen kann. Man müsse nur ein Datum auf das Uhrenglas malen, die Uhr umdrehen und sobald der Sand durch die Öffnung rinnt, würde man auf dem Zeitstrahl an den gewünschten Tag geschossen.
Kalle bekommt leuchtende Augen: „Kann ich es ausprobieren?“ Der Geist schüttelt den Kopf: „Die Uhr ist leer. Wir brauchen besonderen Sand, Zaubersand, sonst gibt es keine Reise.“ Die Gestalt macht eine Pause, während der Kalle angestrengt das kostbare Stück in seiner Hand betrachtet. „Hilf mir, den Zaubersand zu bekommen und lass uns durch die Zeit reisen!“ Jetzt breitet die Gestalt ihre Arme aus, lässt ihr Gewand wie zur Bekräftigung im Wind fliegen. Sie beschwört Kalle: „Alle ist möglich! Wir können Hauptmann alles heimzahlen, wir können ihm im richtigen Moment sein Buch abluchsen und uns an seinen Verbündeten Peter und Heidi rächen. Wenn ich meinen Fehler von damals korrigiere und Heidi nicht zum Geist mache, dann bleibt sie ewig im Mittelalter stehen und kommt gar nicht erst in die heutige Zeit.“ Kalle spürt, wie die Verlockung die Oberhand über seine Zweifel bekommt. Sein Widerstand löst sich. Er hört sich sagen: „Okay, wenn ich Laura wiederbekomme.“
Peter wundert sich: jemand Besonderes hat sich heute unter die Zuschauer beim Training gemischt, jemand, der schon lange nicht mehr hier gewesen ist, jemand, den er eigentlich schon aus seinem Gesichtskreis verloren hatte. Es ist Laura Kuschnick – Kalles ehemalige Flamme und Peters früherer heimlicher Schwarm. Peter bekommt einen Peinlichkeitsanfall, wenn er daran zurückdenkt. Obwohl – etwas Glut ist noch unter der Asche seiner damaligen Hoffnung. Doch wenn Peter sich auf dem Platz umblickt, dann ist da, wo bei ihm eine sanfte Glut glimmt, bei anderen ein loderndes Feuer: Kalle rennt heute wie vom Bienchen gestochen über das Feld und kämpft um jeden Ball. „Aha, Imponiermodus“, denkt sich Peter und schüttelt verächtlich den Kopf.
Dann lässt er seinen Blick weiter über Spielfeld und Zuschauer schweifen. Er kann Heidi erkennen. Sie wirkt blass. Bestimmt schläft sie immer noch schlecht wegen der Albträume. Der Fußball ist ihr deswegen eine willkommene Ablenkung.
Endlich ist Trainingspause. Peter geht zu Heidi. Obwohl er eigentlich die Antwort kennt, fragt er, wie es ihr geht. Sie winkt ab. Die Träume sind tatsächlich noch da. Sacht legt er seine Hand auf ihre Schulter, um sie gleich wieder zurückzuziehen. Das ist zu viel Vertraulichkeit hier vor seinen Kumpels. Besonders sein Freund Uli schielt argwöhnisch herüber, greift aus der bereitstehenden Getränkekiste ein Wasser, nimmt selbst einen Schluck und gibt es Peter weiter: „Hier, gleich startet das Trainingsspiel gegen Kalle.“ Auch das noch!
Kalle lehnt unterdessen lässig an der Spielfeldbande und tuschelt mit Laura. Wie sie hierher komme, fragt er, um den Smalltalk einzuleiten. Laura stutzt: „Du hast mir doch vorhin eine SMS geschickt, heute gäbe es etwas Besonderes zu sehen.“ Kalle greift nach seiner Sporttasche, kramt sein Mobiltelefon heraus. Stimmt, im Ausgang ist eine SMS. „Ach die“, schwindelt er und blickt sich verstohlen um. Hat der Geist von gestern seine knochige Hand im Spiel? Aber der Kuttenträger ist weit und breit nicht zu sehen. Doch das muss nichts heißen. Wer weiß, bestimmt kann er sich mitsamt seinem altmodischen Kostüm unsichtbar machen – so erschreckt er wenigstens nicht die kleinen Kinder unter den Zuschauern in seiner Vampir-Kluft und mit seiner Grufti-Stimme.
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