Der See
Jetzt waren sie zu fünft. Im Gänsemarsch folgten sie dem Flußlauf, Herzog, der es nun noch eiliger hatte und ein enormes Tempo vorlegte, vorneweg. Micha, der mit Claudia und Pencil den Schluß der Gruppe bildete, verlor den Anschluß und fiel immer weiter zurück. Erst als Herzog zu einer kurzen Mittagsrast anhielt, holte er die anderen wieder ein.
Axt, Herzog und Tobias sprachen schon wieder über den Unbekannten. Seit dem Abend schien es kein anderes Thema mehr zu geben. Schon beim Frühstück hatten sie aufgeregt darüber debattiert, und auch in den Tagen danach sollte es bei jeder sich bietenden Gelegenheit um diesen Fallensteller und die möglichen Konsequenzen seiner Aktivitäten gehen. Selbst spät abends, wenn Micha und Claudia, die jetzt immer zusammen im Zelt schliefen, in ihren Schlafsäcken lagen, kamen sie nicht davon los.
Die ganze Aufregung erschien Micha anfangs übertrieben. Erst nach und nach wurde ihm klar, was Herzog und Axt so beunruhigte. Nachdem er durch Axt von den Vorgängen in Messel erfahren hatte, wirkte der Eozän alarmiert, wie aufgezogen. Er war kaum wiederzuerkennen in seiner rastlosen Unruhe und drängte jeden Morgen auf einen zeitigen Aufbruch, damit sie möglichst schnell den Dschungel erreichten.
Jemand spielte hier mit einer höchst sensiblen Materie herum, der Geschichte des Lebens. Das Tor in die Vergangenheit, durch das sie geschlüpft waren, eröffnete die Möglichkeit der Manipulation. Darüber hatte er vorher naiverweise nie nachgedacht. Man konnte von Glück sagen, daß die Höhle nur in das Tertiär führte und nicht in einen viel länger zurückliegenden Abschnitt der Erdgeschichte. Anders als in späteren Erdzeitaltern, wo eine schon seit Millionen Jahren eingespielte Ökologie mit einer Vielzahl von spezialisierten und voneinander abhängigen Lebensformen ein kompliziertes und relativ stabiles Netz gewoben hatte, waren die Anfänge, die ersten zaghaften Versuche in eine neue Richtung leicht verwundbar und von geringer Widerstandskraft. Mitten in dieses sensible, gerade erwachende Leben wären sie mit ihrem naiven touristischen Entdeckergeist hineingeplatzt und hätten womöglich aus purer Unachtsamkeit eine Katastrophe angerichtet.
Neue Tier- und Pflanzenarten entstanden nicht nur in den Pionierphasen, die auf die globalen Massensterben folgten und die dadurch gerissenen Lücken wieder auffüllten. Auch in den scheinbar ruhigen Zwischenzeiten, auch jetzt hier um sie herum, auch in der fernen Zukunft, in der ihr Zuhause lag, überall und zu jedem Zeitpunkt entstanden in einem langsamen und daher unsichtbaren Prozeß neue Lebewesen, vielleicht sogar die zunächst unscheinbaren Urahnen einer erst viele Millionen Jahre später erfolgreichen und blühenden Organismengruppe.
Das erste Wirbeltier oder sein Vorläufer hatte bestimmt nicht sehr eindrucksvoll ausgesehen, und wenn es von irgendeinem primitiven Urraubtier gedankenlos verspeist, in einem plötzlichen Regenguß ertrunken, von einem Erdrutsch verschüttet oder von einer Mausefalle erschlagen worden wäre, wer weiß, ob die Natur oder die Evolution dieselbe Idee noch ein zweites Mal hervorgebracht hätte. Um so hochentwickelte, imposante Gestalten wie die Dinosaurier vom Planeten zu fegen, hatte es schon einer Katastrophe globalen Ausmaßes bedurft, bei weniger robusten Kreaturen genügte vielleicht schon ein Tritt, und das Antlitz des Planeten wäre ein anderes gewesen.
In letzter Konsequenz war jedes einzelne Individuum, ob Pflanze oder Tier, in seiner Art einzigartig, eine vom Zufall ausgewürfelte Kombination von Eigenschaften, die in genau dieser Zusammenstellung möglicherweise nie wieder auftreten würden, und wer konnte schon sagen, ob in der gerade vernichteten Pflanze oder dem achtlos zertretenen Wurm nicht der Keim für die künftigen Herrscher der Erde gelegen hatte. Man konnte die Vorsicht der indischen Jainas, die vor jedem Schritt den Weg vor sich fegen, um ja nichts zu zertreten, für ziemlich übertrieben halten, angesichts dieser Gedanken jedoch erschien ihr Verhalten plötzlich in einem ganz anderen Licht.
Vielleicht gab es ja immer nur genau einen Ort, einen Zeitpunkt, an dem sich eine neue Idee in der Natur durchsetzen konnte. Wurde dieser Moment verpaßt oder geschah etwas Unvorhergesehenes, war die Chance vertan, und die Welt würde nie erleben, welche verborgenen Möglichkeiten in genau dieser Idee gesteckt hatten.
Natürlich gibt es so etwas wie physikalische Gesetze und optimale Lösungen für bestimmte Probleme. Wenn etwas im Wasser schnell schwimmen wollte, war die Spindelgestalt aus strömungstechnischer Sicht am günstigsten, und ganz egal, wer sich auf diesen Weg begibt, ob Fisch, Säugetier, Vogel oder Weichtier, nach den Gesetzen der Evolution würde stets etwas Spindelförmiges dabei herauskommen. Wer in weichem Substrat oder als Parasit in den Körpern großer Wirtstiere lebte, war dagegen mit der Wurmgestalt am besten bedient. Für beides liefert die Natur zahllose Beispiele. Ein unabänderliches Diktat der Physik.
Sicherlich hatte es auch Zeiten gegeben, in denen bestimmte Entwicklungen gewissermaßen in der Luft lagen und eine große Zahl von Lebewesen nur eine Winzigkeit vom entscheidenden, revolutionären Schritt entfernt waren. Die Wahrscheinlichkeit, daß mehr als nur ein Organismus diesen Schritt tatsächlich irgendwann tat, war dann sehr groß. Wurde der richtige Zeitpunkt aber verpaßt, war der Platz, der für das allererste dieser Wesen frei gewesen wäre, vielleicht aus einer ganz anderen Richtung schon besetzt.
Vielleicht hätten ja auch seltsame rote schleimige Algenkissen die Gunst der Stunde nutzen und das Land als erste in Besitz nehmen können, so daß sich etwaige Nachfolger, zum Beispiel die grünen Pflanzen, mit einem Stehplatz begnügen müßten. Zu einer Randexistenz verurteilt und auf Grund des großen Entwicklungsvorsprungs ihrer Konkurrenten hoffnungslos zurückgefallen, wären sie anstatt zu Bäumen, Gräsern und Blumen vielleicht zu form- und bedeutungslosen grünen Klumpen geworden. Und wer weiß, vielleicht hätte die Flora und Fauna der Erde ein gänzlich andersartiges Aussehen angenommen, wenn nicht Individuum A, sondern B den entscheidenden Schritt an Land gewagt hätte, weil B sich in vielen kleinen Details von A unterschied.
Die Möglichkeiten und Konsequenzen dieser Gedanken waren so schwindelerregend, daß Micha kaum wagte, sich von der Stelle zu bewegen, aus Angst, mit einer unachtsamen Bewegung, einem unvorsichtigen Schritt, ja, einem einfachen Atemzug die Fauna und Flora ferner Erdzeitalter zu vernichten.
Aber er mußte bald einsehen, wie unsinnig diese Angst war. Der freigewordene Platz würde ja von jemand anderem eingenommen werden. Nur das Verschwinden der einen ermöglichte das Aufblühen der anderen Gruppe. Ohne das Aussterben der Trilobiten hätten viele andere Meereslebewesen vielleicht nie eine Chance zur Entfaltung bekommen, und ohne die Vernichtung der Dinosaurier wären die Säugetiere möglicherweise die kleinen, nachtaktiven, scheuen Wesen geblieben, die sie im Erdmittelalter waren, mit großer Sicherheit aber wäre der Mensch so nie entstanden.
In der großen Lotterie des Lebens, im permanenten Auf und Ab des Werdens und Vergehens wurden die Hauptgewinne immer wieder neu verteilt. Wer heute eine Niete zog, in einer verborgenen und geschützten Nische aber am Leben blieb, erwischte morgen vielleicht das große Los.
Daß ihre eh schon arg gebeutelte Welt in der jetzt so fernen Neuzeit auf diese hinterhältige Weise, durch die Ignoranz abenteuersuchender Urzeittouristen oder den Größenwahn irgendwelcher Möchtegerngötter gefährdet werden könnte, hätte Micha sich selbst im Traum nie vorzustellen gewagt.
Hätte er um diese Gefahr gewußt, er wäre nie soweit gefahren.
Aber mit Sicherheit war ihr Besuch harmlos im Vergleich zu dem, was passierte, wenn die Wissenschaft von der Höhle Wind bekam. Genau das war ja Herzogs große Befürchtung. Vielleicht hatten sie es hier mit jemandem zu tun, der sich die Möglichkeiten der Höhle ganz bewußt zunutze machte. Was, wenn hier tatsächlich jemand mit der Geschichte des Lebens herumexperimentierte? Werkzeuge, die den Wissenschaftlern durch Zufall in die Hände fielen und neue Wege der Forschung eröffneten, waren in der langen Geschichte der Naturwissenschaften selten ungenutzt geblieben. Wer gentechnologische Forschung betrieb und die Welt, trotz aller Risiken, mit transgenen Mischgeschöpfen bevölkern wollte, würde vor direkten Experimenten mit der Evolution nicht zurückschrecken.
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