»Die Blütenpflanzen genauso«, fügte Claudia hinzu. »Daran beißen sich viele Evolutionsforscher noch heute die Zähne aus.«
»Dann wäre die Tierwelt in unserer Zeit ja im Grunde nur noch ein kümmerlicher Rest einstiger Vielfalt«, sagte Micha erstaunt. »Das, was sich irgendwie durchgemogelt hat.«
»Kümmerlich ist vielleicht etwas übertrieben, aber so ähnlich sieht es wohl aus, ja. Und wir können wirklich von Glück reden, daß unter den Überlebenden irgend etwas war, aus dem sich die Wirbeltiere entwickeln konnten. Sonst gab’s uns nämlich nicht, und das wär doch echt schade.«
»Na ja ...«, sagte Herzog.
Pencil knurrte, verließ seinen Platz an Claudias Seite und lief zum Ufer hinunter.
»Wie auch immer«, sagte Claudia, während sie Pencil hinterherblickte. »Es ist jedenfalls erstaunlich, daß nur Anpassung und Selektion zu dieser Artenvielfalt geführt haben sollen.«
Herzog nahm seine Pfeife aus dem Mund und schüttelte den Kopf. »Selektion ja, Adaptation mitnichten.«
»Jetzt erzähl mir bloß nicht, daß Organismen sich nicht so gut es geht, ihrer Umwelt anpassen.« Tobias stützte seinen gesunden Arm auf den Oberschenkel und starrte Herzog entrüstet an.
»Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber ich glaube wirklich nicht daran, daß jede noch so unbedeutende Struktur, jeder Farbfleck, jede abstruse Verhaltensweise ihren Besitzern einen Selektionsvorteil verschafft. Das ist doch ein Totschlagargument. Ein phantasievoller Beobachter kann sich für alles eine Erklärung ausdenken, irgendeinen angeblichen Anpassungswert, aber ob das stimmt, ist eine ganz andere Frage.«
»Wuff«, machte Pencil.
»Du brauchst gar nicht so zu gucken«, sagte Herzog zu Tobias. »Ich geb dir ein Beispiel. Faultiere koten nur etwa einmal in der Woche, was für einen Pflanzenfresser eine echte Spitzenleistung ist. Obwohl das extrem gefährlich für sie ist, klettern sie dazu von ihrem Baum herunter, scheißen neben den Stamm und vergraben dann ihre Exkremente. Ein ziemlich idiotisches Verhalten für ein Tier, daß auf dem Erdboden völlig hilflos ist. Worin, glaubst du, besteht also der Anpassungswert?«
»Es will durch seinen Kot keine Raubtiere auf sich aufmerksam machen«, schlug Claudia vor. »Pencil, komm her!« Der Dackel lief aufgeregt herum und bellte.
»Nicht schlecht, aber die gefährlichsten Feinde für Faultiere kommen nicht von unten, sondern von oben: Schlangen und Raubvögel.«
»Vielleicht düngen sie auf diese Weise ihren Wohnbaum, damit sie mehr zu fressen haben, ohne sich großartig von der Stelle bewegen zu müssen. Sind ja schließlich Faultiere«, sagte Micha und lachte.
»Genau.«
»Wie?«
»Du hast völlig recht«, sagte Herzog. »Das ist jedenfalls das, was den Experten dazu eingefallen ist. Angeblich soll das Faultier durch die erhöhte Vitalität des Baumes schließlich mehr Nachkommen erzeugen als ohne die Düngung. Absurd, nicht wahr? Dazu müßte es sich nicht extra nach unten bemühen. Außerdem wäre es unter diesen Umständen doch vernünftiger, viel häufiger als nur einmal in der Woche zu koten. Was ich sagen will, ist: Vielleicht gibt es gar keine vernünftige Erklärung für dieses selbstmörderische Verhalten. Natur hat nicht viel mit Vernunft zu tun. Warum haben alle Insekten sechs Beine, obwohl es sich mit vier oder acht oder hundert Beinen genausogut laufen läßt. Hat dieses Merkmal also einen adaptiven Wert?«
Herzog zog ein paarmal an seiner Pfeife. »Und um auf deine Stammbäume da zurückzukommen . « Er zeigte auf die Zeichnungen im Sand. »Ich glaube nicht, daß dein Amerikaner recht hat.«
Tobias sah ihn herausfordernd an. »So. Und warum nicht?«
»Intuition, Gefühl.«
»Schsch«, machte Claudia. »Sei endlich ruhig, Pencil!«
»Gefühl?« Tobias legte ein mitleidiges Lächeln auf. »Das sagst ausgerechnet du? Klingt für mich nicht sehr überzeugend.«
»Vielleicht, aber Glück ist in diesem Zusammenhang auch kein besonders überwältigendes Argument.«
Micha glaubte nicht, daß Herzog wirklich meinte, was er sagte. Es war ein Spiel und Tobias ein dankbares Opfer für Scherze dieser Art.
»Hm«, knurrte Tobias verständnislos, stand auf und wischte einmal mit dem rechten Turnschuh quer über seine Zeichnungen. »Nur weil es uns nicht paßt, muß es ja nicht falsch sein. Was hat denn die dumme Töle?«
Pencil hatte unten am Flußufer Stellung bezogen und kläffte die Nacht an.
»Ich weiß auch nicht«, sagte Claudia und zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich irgendein Tier.«
»Vielleicht ist er das Vagabundenleben nicht mehr gewöhnt«, schlug Micha vor.
»Quatsch!«
»Hallo!«
Herzogs Kopf fuhr herum. »Habt ihr das gehört?«
»Was?«
»Da hat jemand >hallo< gerufen.«
»Hier? Du spinnst!« sagte Tobias noch immer verärgert.
»Hallo! Ist da jemand? Hallo!«
Sie sprangen auf, als hätten sie in einem Ameisennest gesessen.
»Wer, zum Teufel, kann das sein?« fragte Claudia und ergriff Michas Arm.
»Keine Ahnung«, sagte er nicht besonders beunruhigt. Immerhin waren sie zu viert, und außerdem kündigte sich dieser Jemand ja laut genug an. Wenn das ein Überfall sein sollte, dann war er ziemlich dilettantisch vorbereitet.
»Hallo! Keine Angst!« Jetzt hörte man Schritte im Ufersand. »Sie kennen mich. Mein Name ist Helmut Axt.«
»Helmut Axt?« fragten Claudia und Herzog wie aus einem Mund.
»Das war doch dieser Typ aus Messel, der von dem Vortrag, erinnerst du dich, Micha? So hieß der doch. Was . « Aber bevor Tobias ausreden konnte, sah man eine keuchende Gestalt aus dem Dunkel stolpern. Pencil kläffte sich die Seele aus dem Leib.
Der Mann trat noch ein paar Schritte näher - Herzog, hatte inzwischen die Hand an seinem imposanten Buschmesser -, dann wuchtete er seinen Rucksack vom Rücken, stand einfach nur da und grinste, während sich seine Brust hob und senkte.
»‘n Abend«, sagte er.
Micha erkannte den nächtlichen Besucher, obwohl der jetzt einen Bart trug. Es war der Paläontologe aus Messel, den er damals nach dem Käfer gefragt hatte. Seltsam, dachte er, daß auf dieser Reise andauernd aus dem Nichts Leute auftauchen, mit denen niemand gerechnet hat. Erst Claudia, dann Herzog und jetzt dieser Axt. Was hatte das zu bedeuten?
Eine Weile sagte niemand etwas, selbst Pencil hielt die Klappe. Dann steuerte Axt zielstrebig auf Tobias zu und streckte ihm die Hand hin.
»Sie müssen Tobias sein. Sie glauben gar nicht, wie froh ich bin, Sie zu sehen.«
Tobias sah ihn an, wie man einen Geist ansehen würde, wenn er auf einen zukäme, um einem die Hand zu schütteln. Als er nicht reagierte, zeigte Axt auf Tobias’ Lehmverband. »Was ist mit Ihrem Arm passiert? Gebrochen?«
Tobias starrte ihn finster an und zeigte weiterhin keinerlei Reaktion. Axt drehte sich um und wandte sich Micha zu.
»Und Sie sind Michael. An mich erinnern Sie sich ja vielleicht noch.«
»Hm«, sagte Micha. »Ja, ich erinnere mich.«
Axt nickte freundlich. »Und Sie beide sind eine echte Überraschung für mich, das muß ich sagen.« Er schaute Claudia an, die immer noch neben Micha stand und seinen Arm festhielt.
»Das ist Claudia, meine Freundin«, sagte Micha und ihm fiel gar nicht auf, daß er dieses Wort in Zusammenhang mit ihr zum ersten Mal in den Mund nahm. Er spürte, wie ihre Hände an seinem Arm fester zudrückten.
»Vielleicht können Sie uns mal erklären, was Sie hier zu suchen haben?« fragte Tobias mit scharfer Stimme.
Er und Herzog, der sich immer noch an seiner Machete festhielt, standen jetzt dicht nebeneinander. Passen eigentlich gar nicht schlecht zusammen die beiden, dachte Micha, wie Vater und Sohn. Er konnte sich zuerst nicht recht erklären, warum sie so feindselig auf Axt reagierten, der nun wirklich keine Bedrohung für sie darstellte. Aber dann verstand er, was in ihren Köpfen vorging. Sie brachten ihn mit den Fallen in Verbindung, mit den von Gazehauben verhüllten Baumblüten, die sie im Dschungel entdeckt hatten, mit den Explosionen, die laut Herzog zu dem Erdrutsch geführt und einen ganzen Moorsee verschüttet hatten. Sie dachten, er sei womöglich der große Unbekannte, der hier sein Unwesen trieb.
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