Als er dann beim Abendessen sein Anliegen vorbrachte, stieß er jedoch auf erbitterten Widerstand. Tobias fiel fast sein Knochen aus der Hand.
»Wie bitte? Du spinnst wohl!« sagte er mit vollem Mund. »Jetzt umkehren? Das kann doch nicht dein Ernst sein, Micha.«
»Nicht umkehren, zurückfahren.« Er dachte, vielleicht störte Tobias sich nur an dem Wort umkehren. Es mochte in seinen Ohren wie eine Niederlage klingen. Aber weit gefehlt.
»Das läuft ja wohl auf dasselbe hinaus, oder? Wie kommst du nur auf so was? Wo wir es doch schon so weit geschafft haben.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, im Gegenteil, ich finde, wir könnten eigentlich bald weiterfahren.«
»Ich hör wohl nicht richtig?« Micha fehlten wirklich die Worte. »Du willst noch mal in diesen Dschungel? Dir hat das letzte Mal nicht gereicht, nein?«
»Und was ist mit deinem Arm?« schaltete sich Claudia ein.
»Was soll damit sein? Alles klar!« Tobias fuchtelte mit seinem Verband in der Luft herum. Der viele Regen hatte dem Lehm arg zu schaffen gemacht, und Herzog hatte den Verband nach ihrer Rückkehr sofort erneuern müssen.
»Das glaubst du doch selber nicht«, sagte sie.
Herzog saß schweigend dabei, rauchte seine mit merkwürdig riechenden tertiären Kräutern gestopfte Pfeife und machte ein teilnahmsloses Gesicht. Offensichtlich wollte er sich in diese Diskussion nicht einmischen.
»He, was ist los mit euch?« Tobias blickte zwischen Claudia und Micha hin und her und bekam große Augen. »Ihr habt euch abgesprochen, was? Ist wohl für euch schon beschlossene Sache. Ihr habt die Hosen voll oder Heimweh oder so was. Nee nee, nicht mit mir.«
»Quatsch, wir haben uns keineswegs abgesprochen«, widersprach Micha vehement. »Aber ich dachte .«
»Nein, kommt überhaupt nicht in Frage«, sagte Tobias kategorisch. »Wir fahren weiter und damit basta.«
»Hör mal, Freundchen, so geht das aber nicht, klar?« rief Micha entrüstet. »Wir entscheiden immer noch gemeinsam, was wir tun. Wenn es dir egal ist, was aus deinem Arm wird, dann ist das deine Sache. Ich hoffe wirklich, er wächst dir genauso schief zusammen wie dein Gebiß. Dann hätte das Ganze wenigstens irgendwie Sinn und Verstand, verdammt noch mal. Aber ich darf dich daran erinnern, daß wir einmal eine Abmachung hatten. Wir sind jetzt fünf Wochen unterwegs, und wir haben damals beschlossen, ungefähr .«
»Na und? Erst mal sind es gerade gut vier Wochen, und jetzt dauert es eben etwas länger. Was macht das schon? Sei doch nicht so schrecklich unflexibel. Kommst mir manchmal vor wie ‘n alter Opa.«
»Tobias!« Micha wurde sauer.
» Tobias, Tobias«, äffte Tobias ihn nach. »Nee, so läuft das nicht, Leute. Wenn ihr glaubt, ihr könnt mich hier vor vollendete Tatsachen stellen, dann täuscht ihr euch aber gewaltig. Hier gibt’s noch so viel zu entdecken. Begreifst du denn überhaupt nicht, wo wir hier sind? Wir sind doch nicht die ganze Strecke bis hierher gefahren, um jetzt gleich wieder umkehren. Ich versteh das einfach nicht.«
»Ich hab’s dir doch erklärt. Im Gegensatz zu dir führe ich noch ein Leben außerhalb des Eozäns.«
Claudia versuchte es mit einer anderen Taktik. »Warum willst du denn noch mal in den Dschungel?«
»Na, ich will wissen, wie’s dahinter weitergeht«, sagte Tobias. »Da hat sich offensichtlich noch keiner hingetraut.«
»Du hast doch gehört, was Ernst gesagt hat. Der Wald ist riesig. Dahinter gibt’s nichts mehr.«
»So ein Blödsinn! Von wegen, dahinter gibt’s nichts. Glaubt ihr immer noch daran, daß die Erde eine Scheibe ist, oder wie? Ich sag’s ja, ihr habt nur die Hosen voll. Der große Biologe und die Berliner Kugelstoßmeisterin wollen nach Hause zu Muttern.«
Trotz seiner lautstarken Attacken merkte man ihm an, daß er seine Felle davonschwimmen sah. Seine Augen nahmen einen gehetzten Ausdruck an.
»Feiglinge!« stieß er verächtlich aus. »Wahrscheinlich wollt ihr euch zu Hause nur in euer trautes Liebesnest stürzen, und ich bin euch hier im Wege.«
Was Micha anging, hatte er damit gar nicht so unrecht, aber Claudia reagierte ziemlich ungehalten. »Mein Gott, Tobias! Was soll denn das jetzt? Du bist ein unerträglicher Angeber. Vor ein paar Tagen hast du dich noch zitternd und phantasierend auf dem Boden gewälzt und keine Sonne gesehen. Und jetzt markierst du hier den starken Mann. Du machst dich ja lächerlich.«
Schweigen. Tobias hatte sich abgewendet. Seine Kiefermuskulatur arbeitete.
»Es ist mein Boot.«
»Wie bitte?« Micha hatte ihn nur zu gut verstanden.
»Die Titanic gehört mir«, preßte er hervor. Seine Lippen zitterten vor Wut.
»Ach!« Micha blieb fast die Spucke weg. »So läuft der Hase jetzt. Dann gehört der Proviant mir und die Medikamente auch.«
»Behalt doch deinen Scheißproviant. Aber ohne das Boot seid ihr aufgeschmissen.«
»Und womit willst du weiterfahren? Die Titanic liegt unten an den Stromschnellen. Willst du sie hier raufschleppen? Ach so, klar, das würdest du mit deinem Arm auch noch fertigbringen, was? Hast ja noch die andere Hand, oder? Mann, du bist ein solches Arschloch.«
Tobias wirkte verunsichert. Die Sache mit dem Boot hatte ihm offensichtlich zu denken gegeben. Er schaute zu Herzog hinüber, aber der nahm die Pfeife aus dem Mund und schüttelte den Kopf.
»Das Floß bekommst du nicht. Das schlag dir mal gleich aus dem Kopf, mein Junge. Aber ... bevor ihr euch hier gegenseitig an die Gurgel springt ...« Er räusperte sich, schaute jeden einzelnen nacheinander ernst an, und Micha sah wieder diesen Vorwurf in seinen Augen, wie damals, als sie ihn zum ersten Mal trafen: Das hier ist nichts für euch, seht das doch endlich ein. »Es ist normalerweise wirklich nicht meine Art, mich in die Angelegenheiten anderer Leute einzumischen, schon gar nicht, wenn die meinen, unbedingt hierherkommen zu müssen, aber in eurem Fall ...« Sein Gesichtsausdruck hatte immer etwas Grüblerisches, aber jetzt sah er noch nachdenklicher aus als sonst. »... in eurem Fall ist das etwas anderes. Ich weiß selbst nicht so genau, warum. Vielleicht wegen meiner alten Freundschaft zu Sonnenberg. Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich mache ich einen großen Fehler, aber aus irgendeinem Grunde kann ich es nicht mitansehen, wie ihr in euer Verderben lauft, so oder so. Vielleicht kann ich euch einen Kompromiß für euer Problem anbieten.«
Verlegen ruckelte er auf seinem wackligen Hocker hin und her. Man sah ihm an, daß er sich nicht ganz wohl fühlte in seiner Haut.
»Wenn ihr versucht, allein den Wald zu durchqueren, werdet ihr mit größter Wahrscheinlichkeit scheitern. Im günstigsten Falle werdet ihr viel Zeit verlieren, und das in einer ziemlich ungemütlichen Gegend. Das ist auf Dauer kein Ort für Menschen. Eigentlich dachte ich, ihr hättet das endlich begriffen. Im ungünstigsten Fall werdet ihr nie zurückkehren, werdet irgendwo jämmerlich verrecken. Es sei denn .«
»Ja?« fragte Tobias gespannt.
»Es sei denn, ich komme mit.«
»Hey, das wäre Spitze, Mann!« In Tobias’ Gesicht kehrte wieder die Farbe zurück.
»Das würdest du tun?« fragte Claudia.
»Sonst würde ich es nicht sagen. Allerdings ...« Er zog an seiner Pfeife. »Ich sag’s ganz ehrlich. Ich will, daß ihr von hier verschwindet, je eher, desto besser. Außerdem hat Michael ganz recht. Tobias’ Arm muß in einem vernünftigen Krankenhaus behandelt werden. Wenn ihr auf eigene Faust weitermachen wollt, bitte, aber in diesem Fall könnt ihr nicht auf meine Hilfe zählen. Ich meine es ernst. Ich werde keinen Finger rühren, wenn ihr da drinnen verfault, ist das klar?« Wieder diese Blicke. Ihr habt keine Chance. »Mein Angebot ist folgendes: Ihr zeigt mir den Baum mit den Stoffhauben, den ihr gesehen habt, und ich führe euch in den Dschungel, in ein wunderschönes Gebiet, das ihr alleine nie finden würdet. Danach will ich euch hier nicht mehr sehen, dann müßt ihr zurück.«
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