Axt zitierte in diesem Zusammenhang den Ausspruch irgendeines schlauen Menschen. »Wer nur einen Hammer hat, dem erscheint die ganze Welt als Nagel«, hatte er gesagt.
»Ja«, brummte Herzog daraufhin, »und er wird sich damit verdammt leicht und sehr schmerzhaft auf die Finger hauen.«
Trotz der unheimlichen Möglichkeiten, die sich da als drohende Unwetterwolken abzuzeichnen begannen, kam Micha die Eile, die Herzog und Axt an den Tag legten, reichlich übertrieben vor. Die Chance, daß sie dem Unbekannten begegnen würden, war angesichts der riesigen Ausdehnung des Dschungels, die Herzog früher bei jeder Gelegenheit betont hatte, gleich Null. Zudem hatten sie ja mit eigenen Augen gesehen, wie unübersichtlich und unzugänglich das Gelände war. Es stellte ein so unüberschaubares Gewirr von Wasserläufen, Sumpfflächen, dichten Urwäldern und tückischen Schlammlöchern dar, daß die Chance, diesem Saboteur des Lebens, diesem Evolutionsterroristen, das Handwerk legen zu können, außerordentlich gering war. Daran festzuhalten grenzte fatal an Augenwischerei und eine tragische Verkennung der Realitäten. Andererseits, irgend etwas mußte geschehen. Wenn Herzogs Befürchtungen auch nur ansatzweise zutrafen, dann könnten sich in Zukunft statt fossiler Fledermausskelette noch ganz andere Sachen in Luft auflösen.
Ein weiterer Abend am Lagerfeuer und wieder ein Gespräch über die großen Tragödien in der Geschichte des Lebens, die Massenaussterben. Seltsam, daß es für ein solches Wort überhaupt einen Plural gibt.
»Und was wird aus all dem hier?« fragte Claudia. Die Frage war an alle gerichtet und eher rhetorisch gemeint. Sie wußte ja, daß in den Zoos der Zukunft keine Dinotherien, sondern Elefanten herumstanden. Aber sie schaute zu Axt hinüber, der neben Herzog am Feuer saß.
»Humus, was denn sonst«, antwortete Tobias. »Und Fossilien.«
Axt schmunzelte. »Ich würde sagen, eigentlich nichts Besonderes. Fast alle Phasen des Massenaussterbens gingen mit einer deutlichen globalen Abkühlung einher, und in etwa zehn Millionen Jahren wird es mal wieder soweit sein. Eine Generation von Säugetieren wird abtreten und einer neuen Platz machen. Das seit dem Zeitalter der Dinosaurier herrschende Treibhaus- wird relativ schnell in ein Kühlhausklima umschlagen. Was dann aus dieser tropischen Welt hier werden wird, kann man sich ja vorstellen. Alles, was lebt, wird versuchen nach Süden auszuweichen, Richtung Äquator. Die Lebensräume werden drastisch zusammenschrumpfen. Wenn sie Glück haben, schaffen sie es .«
»Siehst du, Ernst!« rief Tobias dazwischen. »Er spricht auch von Glück.«
Axt schaute irritiert. »Na ja, und wenn nicht ...«
Schweigen.
Typisch Wissenschaftler, dachte Micha. Wahrscheinlich hatte Claudia die Frage anders gemeint, irgendwie poetischer.
Seit ihm bewußt war, daß ihr Handeln hier die Zukunft und damit die Bedingungen ihrer eigenen Existenz mitbestimmte, bewegte er sich ganz anders, viel bewußter, vorsichtiger. Durch die Zeitreise war ihre eigene Gegenwart, das Holozän, zur fernen Zukunft geworden, und sie konnten nun zu Opfern ihrer eigenen Fehler werden.
Je näher sie dem Urwald kamen, desto seltsamer wurde das Verhalten von Helmut Axt. Micha war schon in den Tagen zuvor aufgefallen, daß der Paläontologe aus irgendeinem nicht recht nachvollziehbaren Grund die Nähe von Tobias suchte. Anfangs war er sich nicht sicher, aber jetzt war es nicht mehr zu übersehen. Er fand das verwunderlich, da Tobias Axt sehr kühl und distanziert behandelte, während er bei den anderen schon lange als gleichberechtigtes Gruppenmitglied akzeptiert war. Tobias hingegen würdigte ihn weiterhin kaum eines Blickes, widersprach ihm, wo er nur konnte, und zeigte alle Symptome einer ausgeprägten Antipathie. Trotzdem blieb Axt immer in seiner Nähe, behielt ihn stets im Auge. Wenn Tobias einmal außer Reichweite war, wurde er nervös, unterbrach eine Unterhaltung mitten im Satz und entfernte sich unter fadenscheinigen Begründungen vom Lager, um ihn zu suchen.
Als dann in einiger Entfernung die grüne Wand des Dschungels vor ihnen auftauchte, hing er an Tobias wie eine Klette und rückte ihm so auf die Pelle, daß Tobias einmal wutschnaubend herumfuhr und ihn anbrüllte, er solle ihm gefälligst nicht andauernd in die Hacken treten und dieses ewige Herum-geschwänzel gehe ihm total auf die Nerven. Er brauche keinen Aufpasser und einen Liebhaber schon gar nicht. Axt zuckte wie unter Schmerzen zusammen, schaute betreten zu Micha und den anderen hinüber und hielt fortan etwas mehr Abstand zu Tobias, ohne in seiner merkwürdigen Wachsamkeit nachzulassen.
Als sie den Dschungel erreicht hatten - sein dunkles Grün sah wunderbar aus -, hielt Herzog an und wartete, bis alle aufgeschlossen hatten. Sie befanden sich jetzt in der Nähe der Stelle, wo das Floß lagerte.
»Wir sind bald da«, sagte Herzog, der sich in das dichte Gras am Flußufer gesetzt hatte.
»Wo denn?« fragte Micha neugierig.
»Na, ich wollte euch doch noch etwas zeigen. Mein bescheidenes Abschiedsgeschenk sozusagen. Wir müssen noch etwa zwei Stunden zu Fuß gehen. Am besten wir ruhen uns etwas aus und lassen alles hier. Es ist nicht mehr weit, gleich dahinten.« Er zeigte auf den Urwald und lächelte vielsagend. Manchmal schien es Micha so, als habe Herzog trotz all der mit ihrem Erscheinen verbundenen Unruhe durch sie erst wieder lächeln gelernt.
Sie aßen noch eine Kleinigkeit und machten sich dann ohne Gepäck wieder auf den Weg. Niemand fragte, wo es hinging und was es dort zu sehen gab, und Herzog machte auch keine Anstalten, ihr Marschziel näher zu beschreiben. Es war kaum vorstellbar, daß es da nach allem, was sie erlebt hatten, noch irgend etwas geben sollte, das sie in Erstaunen versetzen könnte. Sie ließen sich einfach überraschen.
Sie entfernten sich wieder vom Fluß und liefen in einer Reihe schräg auf den Urwald zu. Herzog marschierte mit Tobias vorne weg, dahinter gingen Axt und Claudia, von Pencil gezogen, den sie an die Leine genommen hatte. Micha bildete wie immer die Nachhut.
In der Ferne, in der flachen Savanne vor den rauchenden Vulkanen weideten große Herden. Es waren sicher Uintatheri-en oder die Donnertiere, die sie damals am Flußufer beobachtet hatten. Es war ein grandioses Ausblick und erinnerte an die berühmten Safaribilder vor dem schneebedeckten Gipfel des Kilimandscharo.
Je näher sie dem Dschungel kamen, desto lauter und vielfältiger wurden die Geräusche, desto höher ragte der Wald auf, fast übergangslos, nur durch einen schmalen Buschstreifen von dem Grasland mit seinen vereinzelten Bauminseln getrennt. Einige der alten, ehrfurchtgebietenden Urwaldriesen mochten fünfzig, sechzig Meter hoch sein. Ihre weit ausladenden Äste trugen schwer an vielerlei Aufwuchs, bildeten in schwindelerregender Höhe eigene kleine unerreichbare Miniaturwälder.
Herzog zückte sein Buschmesser, lief eine Weile suchend hin und her und begann dann einen kleinen Pfad, wahrscheinlich einen Wildwechsel, freizuschlagen und zu verbreitern. Die anderen folgten ihm. Langsam bahnten sie sich ihren Weg, stiegen über abenteuerlich verwachsene und verschlungene Brettwurzeln, duckten sich unter dichtem, dornigem Buschwerk und baumelnden Lianen hindurch, schwiegen, schwitzten und schauten. Je tiefer sie eindrangen, desto schwerer wurde die Luft, beladen mit Feuchtigkeit und den Düften der Pflanzen und der modrigen Erde. Michas Augen schwelgten in Braun und Grün, dem Braun abgestorbener Blattriesen, des Bodens und der Baumrinden und dem Grün dieser Vegetationsflut, so dicht und unentwirrbar, daß es oft unmöglich schien zu sagen, welche Blätter zu welcher Pflanze gehörten, wo das eine Gewächs aufhörte und das andere begann. Hier und da leuchtete, von einem verirrten Sonnenstrahl getroffen, ein Blatt oder ein Farnwedel auf und malte einen scharfen Schatten.
Читать дальше