Fast unmerklich führte der Pfad bergab, und plötzlich hob sich der grüne Vorhang und gab den Blick auf eine stille schwarze Wasserfläche frei.
»Wir sind da«, sagte Herzog und breitete die Arme aus.
Es war ein Ort so schön wie das Paradies, friedvoll und doch überquellend von Leben. Der See war fast kreisrund, aber seine Ufer waren nur schwer auszumachen. Rechts wuchs dichtes Pflanzengestrüpp im flachen Wasser. Einzelne Äste weit ausladender Baumriesen ragten auf die dunkle Wasserfläche hinaus, die stellenweise von einem blühenden Teppich jener weißen Seerosenart bedeckt war. Links war das Ufer steiler. Etwa zweihundert Meter weiter mündete ein Dschungelfluß in den See.
Auf den Messeler Paläontologen schien die Szenerie den größten Eindruck zu machen. Axt stand wie angewurzelt, stützte sich schließlich mit der Rechten an einem Baumstamm ab und starrte mit offenem Mund auf die Wasserfläche hinaus. Seine Lippen bewegten sich in stummer Verblüffung. Für einen Moment schien er vollkommen abwesend zu sein.
Als Tobias einen Schritt vorwärts machen wollte, hielt Herzog ihn am Arm fest. »Vorsicht, die Ufer sind tückisch. Schwimmrasen, verstehst du, und dicker, zäher Morast. Außerdem steigen giftige Gase auf. Es ist sehr gefährlich. Haltet lieber Abstand.« Tobias nickte, zwängte sich aber laut raschelnd durch die dichte Vegetation, als Herzog seinen Arm losließ. Axt, der aus seiner Starre wieder erwacht war, wirkte nun noch nervöser als sonst und folgte ihm wenige Sekunden später.
Sie verteilten sich. Jeder streifte auf eigene Faust durch das Dickicht. Herzog hockte sich auf eine Brettwurzel, begann seine Pfeife zu stopfen und verfolgte ihre Begeisterung mit gütigem Lächeln, wie ein Vater, der amüsiert und stolz den ersten Gehversuchen seiner Kinder zuschaut.
Es dauerte nicht lange, bis Micha die anderen aus den Augen verloren hatte, abgelenkt von der spektakulären Natur und den vielen Entdeckungen, die er machte. Einiges davon hatte er schon damals auf dem Floß gesehen, als die Insekten in Massen ihre Lampe anflogen, aber er entdeckte auch viele Arten, die ihm unbekannt waren. Trotzdem fehlte ihm die normalerweise angesichts einer derartigen tropischen Idylle gebotene Begeisterung. Er war mit seinen Gedanken nicht recht bei der Sache. Ein wehmütiges Gefühl ließ ihn irgendwann stehenbleiben und gedankenverloren mit den Blättern eines rotblühenden Strauches herumspielen.
Morgen oder übermorgen würden sie umkehren und nach Hause fahren. Ausgerechnet an diesem herrlichen Ort überkam ihn aus heiterem Himmel die Vorstellung, wie es sein würde, bald wieder in einer Stadt zu leben, umgeben von Häuserschluchten, hupenden Autos, von Tausenden und Abertausenden von Menschen, die keine Ahnung davon hatten und auch nie haben durften, was sie hier erlebt hatten. Der Gedanke schmerzte ihn so sehr, daß ihm schwindlig wurde. Wie sollte das gehen, wie sollte er das aushalten? Würde er vor lauter Lügen nicht bald vergessen, was er gesehen hatte? Was hatte diese Reise aus ihm gemacht? Aber da war Tobias, und vor allem Claudia. Das war mehr als ein Hoffnungsschimmer. Sie würden sich helfen.
Micha wußte nicht mehr, wie lange er schon durch den Wald gestreift war, als er Herzog laut rufen hörte. Sie hatten verabredet, noch heute zurück zum Fluß zu laufen, um dort die Nacht zu verbringen. Morgen früh wollten sie dann versuchen, mit Hilfe des Floßes zu dem seltsamen Baum mit den Gazehauben zu gelangen. Es müßte eigentlich problemlos möglich sein, ihn wiederzufinden, denn er befand sich in unmittelbarer Nähe des Ufers. Danach würden sie nach Hause aufbrechen.
Einer nach dem anderen trudelte wieder ein, zuerst Claudia und Pencil. Als Tobias durch die dichte Vegetation trat, verdrehte er die Augen und deutete mit einer kurzen Kopfbewegung nach hinten an, was ihn so genervt hatte. Keine zwei Meter hinter ihm folgte Helmut Axt.
Der Paläontologe sah schrecklich aus. Er war schweißüber-strömt, kreidebleich und zitterte wie Espenlaub. Micha vermutete, daß ihn dieser See mitten im Urwald so beeindruckte. Wahrscheinlich hatte er in ihm das lebende Pendant zu seiner toten Grube Messel gefunden, zweifellos eine eindrucksvolle Erfahrung, die er erst einmal verdauen mußte.
Axt beruhigte sich etwas, als sie alle schweigend beisammen saßen und den Urwaldgeräuschen lauschten. Die Stimmung war etwas bedrückt.
Plötzlich sprang Herzog auf und starrte zum Seeufer hinunter.
»Was ist?« fragte Tobias.
»Ich dachte, ich hätte etwas gesehen.«
»Ein Tier?« fragte Micha.
Sie starrten angestrengt in das Blätterwirrwarr, aber je länger sie dort hineinsahen, desto weniger war zu erkennen, so dicht war das Grün, so verwirrend waren die ineinander und miteinander verwachsenen Äste der Bäume und Sträucher.
»Da unten, da ist jemand«, schrie Tobias plötzlich.
»Wo?«
»Da!« Er zeigte aufgeregt irgendwohin in das Grün des Dschungels. »Den kauf ich mir«, zischte er und im nächsten Moment war er im Dickicht verschwunden.
»TOBIAS!«
Axt stand wie versteinert da. Sein Gesicht zeigte einen derart entsetzten Ausdruck, daß Micha das Blut in den Adern gefror. Aus diesem Schrei, bei dem sich Axts sonst so ruhige Stimme fast überschlagen hatte, sprach so viel Angst, ein solches Maß an Bestürzung, daß Micha keinen Moment zögerte und sofort losrannte.
So schnell er konnte, lief er durch das dichte Gestrüpp. Ohne darauf zu achten, wohin er trat, stürzte er durch den Wald, hastete durch die dichte Vegetation, in seinen Ohren noch das Echo dieses Schreies, das ihn vorantrieb. Er spürte kaum, wie ihm die Äste ins Gesicht schlugen, wie er sich an scharfen Dornen die nackten Arme und Beine aufriß. Fast blind hetzte er dorthin, wo er das Seeufer vermutete.
»Tobias!«
Das war wieder Axt. Er mußte irgendwo rechts von ihm sein. Es war ein Kreischen, fast unmenschlich, voller Qual.
Micha kämpfte sich weiter voran. Irgendwo bellte Pencil. Von unten hörte man Stimmen, einen heftigen Wortwechsel. Er blieb stehen und lauschte, versuchte zu orten, von wo genau die Stimmen kamen. Er erkannte Tobias, aber wer war der andere? Dann plötzlich ein seltsames Stöhnen und Ächzen. Kampfgeräusche. Ein heftiges Blätterrascheln, das Brechen von Ästen, dumpfe Laute, als ob jemand auf den Boden gestürzt war, der spitze Schrei einer Frau. Wer war das? War Claudia schon da unten? Wie hatte sie dorthin gefunden? War ihr etwas passiert? Plötzlich ein lautes Klatschen, wilde tierhafte, gequälte Laute. Sie mußten ins Wasser gefallen sein, schlugen dort wild um sich, kämpften. Immer wieder dieses Stöhnen.
Jetzt hörte er Tobias schreien. Angst, Todesangst klang aus seiner Stimme, und Micha rannte noch schneller, er stolperte und fiel: Nein, es reicht, nicht noch eine Katastrophe, das ertrage ich nicht, das ist zuviel. Er brach durch eine Blätterwand und stand plötzlich keuchend neben Herzog, der wie gebannt auf den See hinausstarrte.
Dann sah er, was passiert war. Tobias steckte bis zur Hüfte in zähem, schwerem Morast, der nur wenige Meter daneben aussah wie festgetretene Erde. Mit der Hand seines gesunden Armes klammerte er sich an einem federnden moosbewachsenen Ast fest.
Nein, nicht schon wieder, dachte Micha. War denn einmal nicht genug? Er spürte wie ihm das Blut in den Kopf schoß. Einen Moment lang stand er unbeweglich da, paralysiert von seiner Wut und dem dagegen ankämpfenden Schuldgefühl. Mit wachsendem Entsetzen verfolgte er, wie Tobias um sein Leben kämpfte. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt. Immer wieder versuchte er verzweifelt, unter ängstlichem Keuchen mit dem verletzten Arm den Ast zu greifen, fand aber keinen Halt, fiel zurück und rutschte jedesmal ein Stück tiefer in den Sumpf.
»Da ist noch jemand. Eine Frau!« Das war Claudias Stimme. Irgendwie hatte sie den Weg zu ihm und Herzog gefunden.
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