Micha schrieb weiter, daß ein alter Schulfreund von ihm vermißt werde. Er hätte ihn gerade erst vor ein paar Monaten überraschend wieder getroffen, und nun sei er verschwunden. Das sollte wohl heißen, daß Micha, wie sie es verabredet hatten, nach einigen Wochen zur Polizei gegangen war und eine Vermißtenanzeige aufgegeben hatte, sofern dies nicht schon geschehen war. Sie hatten sich eine Geschichte überlegt, die er der Polizei erzählen sollte, und Micha hatte sich schon damals vor Angst fast in die Hosen gemacht, wenn er nur daran dachte. Aber es ging nicht anders. Nur er konnte es tun. Claudia durfte da nicht mit hineingezogen werden. Sie hatte Tobias nie getroffen. Micha sollte sagen, daß er und Tobias sich auf der Reise heftig gestritten und daraufhin getrennt hätten. Bei jungen Leuten, die zusammen in die Ferien fuhren, kam das andauernd vor, und niemand würde etwas dabei finden. Aber jetzt, Wochen nach seiner Rückkehr, sollte Micha sagen, käme es ihm doch merkwürdig vor, daß Tobias immer noch nicht zurückgekehrt sei, jedenfalls ginge er nie ans Telefon.
Micha erkundigte sich in seinem Brief, ob Axt schon wüßte, was an der FU geschehen sei. Ein Berufskollege von ihm, der Berliner Paläontologe Prof. Dr. Alois Sonnenberg sei in seinem Arbeitszimmer erschossen aufgefunden worden. Eine Putzfrau hatte ihn entdeckt, als sie frühmorgens im Institut saubermachen wollte. Mit großer Wahrscheinlichkeit sei es Selbstmord gewesen, aber seltsamerweise sei seine Assistentin, eine Ellen Hartmann, seitdem vermißt. Ob ihr Verschwinden in Zusammenhang mit Sonnenbergs Tod stand, sei unklar. Die Polizei suche noch immer nach ihr.
Axt hatte schon davon gehört, aber die Nachricht ließ ihn seltsam kalt. Letzten Endes hatte der Alte an allem Schuld gehabt. Er war irgendwie durchgedreht, hatte das Geheimnis, das er mit sich herumtrug, und die seltsame Situation, in die es ihn gebracht hatte, nicht mehr verkraftet. Vielleicht war es besser, daß er auf diese Weise keinen weiteren Schaden mehr anrichten konnte.
Die letzten Sätze des Briefes waren in eindringlichem Ton gehalten, und sie handelten nur von einem Thema. Der Eingang müsse verschlossen werden, stand da, die Höhle müsse zerstört werden, wenn das ganze Theater nicht irgendwann von vorne beginnen sollte. Wie recht sie hatten!
Sie wußten natürlich nicht, daß Herzog und er das schon erledigt hatten, auch wenn es Axt unendlich schwergefallen war, noch einmal dorthin zu reisen, wo er seine schwersten Stunden durchlitten hatte. Aber Herzog hatte ihn wochenlang bearbeitet, ihn bekniet, daß sie etwas unternehmen müßten.
Eigentlich ging es zunächst gar nicht darum, den Höhleneingang zu verschließen. Wie hätten sie das auch anstellen sollen? Dazu brauchte man Sprengstoff und an den kam man auch als Paläontologe nicht so ohne weiteres heran. Nein, was Herzog unablässig zu beschäftigen schien, waren die Aktivitäten dieses Fallenstellers. Sie waren sich nicht sicher, ob Ellen wirklich die Schuldige war. Wenn man bei den harten Fakten blieb, und das sollte man als Wissenschaftler ja tun, dann gab es dafür nicht den geringsten Beweis. Vielleicht hatte sie auf irgendeine Weise von der Höhle erfahren, womöglich von Sonnenberg selber, sie war schließlich seine Assistentin, und sie hatte sich dann auf eigene Faust auf den Weg gemacht. Vielleicht wäre sie genauso entsetzt gewesen wie er und Herzog, wenn sie von den Vorgängen erfahren hätte, die sich im Tertiär abgespielt hatten. Es wäre unfair, sie ohne weitere Beweise zu beschuldigen, sie, die wie Tobias’ Opfer dieses schrecklichen Unfalls geworden war.
Sie mußten also davon ausgehen, daß dieser Unbekannte weiter existierte, und wenn es auch sehr unwahrscheinlich war, daß sie ihm das Handwerk legen konnten, so mußten sie es doch wenigstens versuchen und die Spuren seiner Aktivitäten soweit wie möglich beseitigen. Darum ging es Herzog. Es war das einzige, was ihn wirklich zu beschäftigen schien.
Herzogs Beharren, sein ewiges Drängen hatten bei Axt lange Zeit nichts weiter zur Folge als grenzenloses Entsetzen. Um nichts in der Welt wollte er sich diesem Alptraum noch einmal aussetzen, auch wenn die Vorzeichen diesmal völlig anders gelagert waren. Zu seinem Erstaunen war es ausgerechnet Marlis, die schließlich den Ausschlag für seinen Sinneswandel gab. Als sie erfuhr, was Herzog so beunruhigte, war ihre erste Reaktion kompromißlose Abwehr. Aber ein paar Tage später änderte sie ihre Meinung, und als sie abends nebeneinander im Bett lagen, sagte sie: »Du mußt mit ihm fahren, Helmut! Du darfst ihn nicht alleine gehen lassen.«
Außer den acht verschwundenen Fossilien schienen sich zunächst keine weiteren Vorfälle ereignet zu haben, die Herzogs Befürchtungen begründet erscheinen ließen. Aber er wurde nicht müde zu betonen, welche katastrophalen Folgen zu befürchten waren, wenn man dem Treiben nicht einen Riegel vorschob. Genaugenommen gab es nicht viele Hinweise, daß das Wirken dieses Menschen tatsächlich so katastrophal war, wie Herzog behauptete. Manchmal hatte Axt den Verdacht, Herzog störte nur die Vorstellung, nicht der einzige gewesen zu sein, der da unten gelebt und Studien getrieben hatte. Er verbrachte Stunden und Tage in Bibliotheken und Zeitungsarchiven, blätterte Fachzeitschriften und Tagungsberichte durch, um irgendwelche Hinweise auf mögliche Veränderungen des Evolutionsverlaufs zu finden. Aber lange Zeit blieben seine Bemühungen ohne Erfolg.
Eines Abends kam er in heller Aufregung durch die Tür gestürzt, warf dem Zeitung lesenden Axt eine Fotokopie auf den Wohnzimmertisch und sagte mit einem Ausdruck größter Bestürzung: »Da! Ich wußte es.«
Es war ein Leserbrief in einer lokalen Entomologenzeitschrift, die er, weiß Gott wo, ausgegraben hatte. Ein verzweifelter Wissenschaftler oder Hobbyforscher, der aus seiner Verwirrung keinen Hehl machte, wandte sich mit der dringenden Aufforderung an die Leser des Blattes, ihm doch bitte mitzuteilen, ob jemandem in letzter Zeit Funde der Blattkäfergattung Donacia bekannt geworden seien. Die Tiere, über die er schon seit Jahren arbeite und die spezialisierte Bewohner bestimmter Seerosenarten darstellten, seien buchstäblich über Nacht verschwunden. Er habe keine Erklärung für dieses Phänomen und ein derart plötzliches Aussterben einer ganzen Tiergattung sei seines Wissens auch ein beispielloser Vorgang, den man unbedingt genauer analysieren müsse. Er wisse, was er den Lesern mit dieser Behauptung zumute, aber am Tag vor ihrem plötzlichen Verschwinden hätten die Tierchen noch in großer Zahl auf ihren Seerosenblättern gesessen. Er müsse mit Hilfe anderer naturliebender Menschen unbedingt herausbekommen, ob es sich nur um das Erlöschen einer lokalen Population handele oder ob die Tiere auch andernorts verschwunden seien.
Axt rieb sich das Kinn und sagte: »Du meinst ...?«
»Du etwa nicht?« Herzog lief aufgeregt im Wohnzimmer umher. »Ich bin sicher, daß dies etwas mit unserem Freund zu tun hat. Vielleicht haben die Vorfahren dieser Tiere in dem verschütteten Sumpf gelebt. Ich weiß, es klingt absurd, aber es gab dort viele Tierarten, die nirgendwo anders auftraten. Helmut, wir müssen etwas tun. Wir haben doch keine Ahnung, was der Kerl noch so alles anstellt. Vielleicht ist das nur der Anfang.«
»Du glaubst nicht daran, daß Ellen die Schuldige war, nicht wahr?«
Herzog zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich hab keine Ahnung. Ich weiß nur, daß wir uns endlich Gewißheit verschaffen müssen. Wir können hier nicht länger untätig herumsitzen und warten, bis noch mehr verschwindet. Siehst du denn immer noch nicht, was da im Gange ist? Du mußt dich entscheiden. Wenn du nicht mitkommen willst, dann fahr ich alleine.«
»Kommt nicht in Frage. Das darfst du nicht. Es ist viel zu gefährlich.«
Herzog lächelte nachsichtig. »Du vergißt, daß ich dort fast zehn Jahre gelebt habe. Ich wüßte wirklich nicht, was daran gefährlicher gewesen wäre, als sich in dieser beschissenen Stadt auf ein Fahrrad zu wagen.«
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