Tobias rief ihm im Treppenhaus noch hinterher, daß er sich sein Angebot überlegen solle, daß er schwöre, nur die Wahrheit gesagt zu haben.
In der Folge entwickelte das, was Tobias ihm erzählt hatte, ein fatales Eigenleben, weniger das mit Ellen, davon glaubte er kein Wort, sondern das andere, diese verrückte Reise, die er mit ihm unternehmen sollte. Er konnte an nichts anderes mehr denken, hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, schlief, von Alpträumen und Schreckensvisionen verfolgt, miserabel, und selbst seine besten Freunde fühlten sich bald vernachlässigt, weil er sich kaum noch bei ihnen meldete. Zweimal ging er abends mit Claudia aus, in der vergeblichen Hoffnung, das könne ihn etwas ablenken. Beim zweiten Mal landeten sie sogar bei ihm zu Hause auf dem Bett, brachen ihre Bemühungen aber bald ab, weil er mit seinen Gedanken ganz woanders war. Claudia war ziemlich sauer, als sie ging.
Das schlimmste war, daß er mit niemandem reden konnte. Wem sollte man eine solche Geschichte schon auftischen, ohne Mitleid oder schallendes Gelächter zu ernten. Zwei-, dreimal rief Tobias an, wohl um ihn weiter zu bearbeiten, aber Micha legte möglichst schnell wieder auf, weil diese Telefonate das bißchen Stabilität, das er sich in der Zwischenzeit aufgebaut hatte, wieder zusammenbrechen ließen wie ein wackliges Kartenhaus.
Mit der Zeit wurde ihm aber klar, daß es nur eine Möglichkeit gab, diesem Alptraum ein Ende zu setzen. Er mußte auf Tobias’ Ansinnen eingehen und mit ihm zu dieser verfluchten Höhle reisen. Nur dort, in der Höhle des Löwen sozusagen, konnte er Tobias und sich selbst beweisen, daß die Welt noch so war, wie sie ihm bis vor kurzer Zeit erschienen war, chaotisch zwar, völlig außer Rand und Band und mit Karacho der sicheren Apokalypse entgegenschlingernd, aber doch nicht so verrückt, als daß in ihr irgendwelche obskuren Schlupflöcher in längst vergangene Erdzeitalter Platz gehabt hätten.
»Is ja super, Mann! Wahnsinn!« rief Tobias, als er ihm seinen Entschluß am Telefon mitteilte. Er war völlig aus dem Häuschen.
»Hör zu, erwarte bitte keine allzu große Begeisterung von mir«, versuchte Micha seine Euphorie zu bremsen. »Ich brauche Klarheit, verstehst du, sonst drehe ich durch.«
»Klar, Micha, versteh ich vollkommen. Aber wir müssen uns langsam ranhalten. Es gibt jetzt unendlich viel zu besprechen.«
Da hatte er wahrscheinlich recht, denn sie hatten mittlerweile Mitte Dezember. Wenn sie die Sache in den kommenden Semesterferien hinter sich bringen wollten, und dazu war er fest entschlossen, er wollte diese Angelegenheit so schnell wie möglich aus der Welt schaffen, dann blieben ihnen gerade noch zwei Monate für die Vorbereitung dieses Unternehmens. Wahrscheinlich war es ziemlicher Wahnsinn, Mitte Februar in die Slowakei fahren zu wollen, aber es mußte jetzt bald geschehen. Bis zum Sommer zu warten, war für ihn eine unerträgliche Vorstellung. Und Tobias war begeistert von seinem plötzlichen Elan. Tatsächlich verschaffte Micha diese Entscheidung etwas Erleichterung, so als hätte er nach längerer Verstopfung endlich einmal wieder auf der Toilette gesessen.
Er traf sich nun regelmäßig mit Tobias, um die Einzelheiten zu besprechen, wer sich um was zu kümmern hatte, wer Zelt, Kochgeschirr, Lebensmittel, Fotoausrüstung, und was man sonst so für eine Reise in die Urzeit brauchte, besorgen sollte und so weiter. Insgesamt planten sie etwa sechs bis acht Wochen ein. Hin und wieder fand Micha sogar zu seinem Humor zurück, aber es war ein böser, sarkastischer Humor, und manchmal stand er vor dem Spiegel, schaute in sein vertrautes Milchbubigesicht und dachte: Du bist übergeschnappt, mach du nur weiter so. Irresein fängt immer so an.
Ende Januar traf er Claudia noch einmal. Da er nun davon ausging, daß der Spuk bald vorüber sein würde, ging es ihm deutlich besser, und sie verbrachten einen netten Abend zusammen. Sie sahen sich endlich Jurassic Park im Kino an, und angesichts der zahlreichen, überzeugend lebensechten Saurier, die den Streifen bevölkerten, lief ihm eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken, wie er es schon seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Tobias hatte vom Eozän gesprochen. Wenn überhaupt irgendwohin, zu den Sauriern führte diese Höhle jedenfalls nicht. Das war beruhigend und enttäuschend zugleich. Wenn Tobias sich schon so einen himmelschreienden Blödsinn ausdachte, warum dann nicht gleich mit den richtigen Akteuren, den ungekrönten Majestäten der Vergangenheit? Wahrscheinlich hatte er befürchtet, das Ganze klänge dann von vornherein noch unglaubwürdiger.
Später beim Bier kamen sie auf die bevorstehenden Semesterferien zu sprechen. Während Claudia erklärte, sie sei noch unschlüssig, ob sie wegfahren solle, sie hätte sich eigentlich vorgenommen, endlich ihre Arbeit fertigzustellen, erzählte er von seiner Reise in die Slowakei.
»Ungewöhnlich«, war ihr erster Kommentar. Genau dasselbe hatte er auch gesagt, als Tobias ihm von seinen Plänen erzählt hatte, damals in dem Cafe.
»Und was wollt ihr da machen?« fragte sie.
»Na, rumreisen, Ski fahren, wandern, lesen, was man halt so macht im Urlaub. Du stellst vielleicht Fragen.«
»Hmm.« Sie schaute ihn, an ihrem Bier nippend, mit großen Augen an. »Is das derselbe Freund, der dir die Pflanze mitgebracht hat?«
»Ja, Tobias, warum?«
»Ach, nur so. Und wo genau wollt ihr da hin?«
Komisch, das wußte er selbst nicht. Tobias hatte mit keinem Wort erwähnt, wo diese seltsame Höhle lag. Bisher hatten sie nur Bahnkarten nach Prag gekauft. Daß das, was sie suchten, wie in dem Film eine Höhle sein sollte, fand er irgendwie phantasielos. Es hätte doch etwas anderes sein können, ein Vulkan wie bei Jules Verne oder ein Mahlstrom wie bei Poe.
»Hohe Tatra«, sagte er aufs Geratewohl, weil ihm diese Gegend noch irgendwie in Erinnerung war.
»Ach so, ja, davon habe ich auch schon gehört. Da kommen die slowakischen Wintersportler her.«
Sie saßen einige Minuten schweigend da, und er rauchte und versenkte sich in den Anblick ihrer neuen blonden Stoppelfrisur. Sie hatte früher schulterlange, sehr lockige Haare gehabt und trug seit ein paar Tagen einen ziemlich radikalen Kurzhaarschnitt.
»Stehen dir gut, die Haare, meine ich.«
»Findest du?« Sie fuhr sich mit der Hand durch die Stoppeln und lachte. »Ist noch sehr ungewohnt.«
»Das glaub ich.«
»Hat dir dein Freund eigentlich mal erzählt, wo er die Pflanze nun her hatte, die du mir gezeigt hast?« fragte sie plötzlich. Er erschrak fürchterlich.
»Ach so, die Pflanze, ja, haha, die . die stammte tatsächlich von da unten.«
»Von wo unten?«
»Na, aus Indonesien, wie du gesagt hast. War wirklich nur ein dummer Scherz von ihm.«
»Das kann man wohl sagen. Aber sonst versteht ihr euch gut, ja?«
»Och, ja, klar.«
»Ich frag nur, weil du doch ziemlich sauer auf ihn warst, wenn ich mich recht erinnere. Und jetzt willst du plötzlich mit ihm verreisen. Ist doch irgendwie seltsam, findest du nicht?«
»Wir haben uns eben wieder vertragen«, erwiderte er kurz angebunden. Er sah ihr an, daß sie ihm kein Wort glaubte.
»Na, ich wünsche euch jedenfalls viel Spaß zusammen«, sagte sie noch. »Hoffentlich schlagt ihr euch nicht gegenseitig die Schädel ein, wenn deinem Freund noch mehr so merkwürdige Scherze einfallen.«
Enameloid von Prionace
Axt saß an diesem trüben Februartag schon sehr früh an seinem Schreibtisch in der Station, weil er versuchen wollte, endlich den Artikel fertig zu schreiben, mit dem er sich nun schon seit Wochen herumquälte. Früher ging ihm so etwas leichter von der Hand. Neben ihm lagen Stapel von dicken Büchern und Fotokopien von Fachaufsätzen, und ihm kam plötzlich der Gedanke, daß er schon seit Ewigkeiten kein normales Buch mehr gelesen hatte. Er las überhaupt nichts anderes mehr als dieses trockene Fachchinesisch mit Titeln, die jedem normalen Menschen wie Überschriften irgendwelcher mystischer Geheimliteratur erscheinen mußten, Titel wie »Vergleichende Osteologie und Phylogenie der Anabantoidei«, »Enameloid von Prionace« oder etwas in der Richtung. Klar, sein Spezialgebiet waren die Fische, und so lauteten heute nun einmal die Überschriften wissenschaftlicher Veröffentlichungen, aber das, was ihm seit Jahren vertraut war, kam ihm plötzlich reichlich absurd vor.
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