Er griff nach seiner Tasse und rührte mit dem Löffel gedankenverloren darin herum, bis ihm der heiße Kaffee auf die Hose schwappte.
»Mist!«
»Da kannst ja zweifeln, solange du willst, Micha, aber ich sage dir: Es stimmt! Ich war da. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.« Von irgendwoher zauberte er das Bild mit der Höhle hervor, das Micha schon an dem Abend in der Kneipe gesehen hatte, und legte es vor Micha auf den Tisch. »Es gibt diese Höhle, und sie führt in die Urzeit, ob du ‘s glaubst oder nicht.«
Er saß ganz entspannt auf seinem Stuhl, ein spindeldürres Bein über das andere geschlagen, hielt zwischen beiden Händen seine Kaffeetasse und machte ganz und gar nicht den Eindruck, als habe er irgendeine Vorstellung davon, welche Ungeheuerlichkeit er da gerade behauptet hatte.
»Wie kannst du erwarten, daß ich das glaube?« Micha schüttelte den Kopf. »Es ist so . so .«
»Was willst du denn noch? Ich habe dir die Beweise doch geliefert.«
»Beweise, ha!« Micha stellte die Tasse ab und ging in die Küche, um seine Zigaretten zu holen, die er dort auf dem Tisch liegengelassen hatte. »Das reicht mir nicht«, rief er von dort in Richtung Saurierzimmer.
»Welche Beweise würdest du denn akzeptieren?« fragte Tobias, als Micha mit Zigaretten und Aschenbecher zurückkam.
»Ich weiß nicht, ich ... vielleicht müßte ich es sehen.«
»Ja!« rief er. »Genau das will ich doch, Mensch. Ich will zusammen mit dir in die Höhle. Was meinst du, was das alles sonst für einen Zweck hatte?«
»Bist du verrückt?« Ihm krampfte sich bei dieser Vorstellung alles zusammen.
»Ich denke, du willst es selbst sehen?«
»Ja, aber .«
So ging es noch eine ganze Weile. Er wollte es sehen, aber er wollte es auch wieder nicht sehen. Er glaubte kein Wort von der Geschichte, und irgendwie wünschte er doch, sie wäre wahr. Er war hin und her gerissen.
Und Tobias? Was war das eigentlich für ein Mensch, der ihm da gegenübersaß und seinen Kaffee schlürfte. Ein Wahnsinniger, ein infantiler Bekloppter, der es bis heute nicht geschafft hatte, sich von einer fixen Kindheitsidee zu lösen? Ein Besessener, ein hoffnungsloser Fall, der ihn nun auch in seine Wahnwelt hinabziehen wollte? Man mußte sich ja hier nur einmal umsehen, all dies unsägliche Zeug, wie das Zimmer eines Zehnjährigen.
Micha war immer noch völlig verkrampft, jeder Muskel seines Körpers arbeitete, und er hampelte dauernd auf seinem Stuhl herum, weil er nicht wußte, wie er sich hinsetzen sollte.
»Ich schaff es nicht alleine, Micha. Ich will ganz ehrlich sein: Ich hatte solchen Schiß, daß ich mir vor Angst fast in die Hosen gemacht hätte. Im eozänen Dschungel bin ich umgekehrt. Ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten.«
Wie das klang, im Eozän umgekehrt, als sei dies irgendeine geographische Angabe. Dabei war es ein Erdzeitalter, eine Adresse in der Zeit, 50 Millionen Jahre her, eine unfaßbare Zeitspanne. Jedes Kohlenstoffatom, jedes Wassermolekül hatte seitdem wahrscheinlich schon unzählige Male im globalen Kreislauf zirkuliert, nichts war mehr übrig von den Lebewesen dieser Zeit, außer einigen spärlichen Überresten in Form plattgedrückter, von vielen Tonnen Gestein zusammengepreßter Skelette.
»Du willst mir doch wohl nicht im Ernst weismachen, daß diese Höhle in die Urzeit führt und irgend etwas mit dem Film zu tun hat, den wir damals gesehen haben«, sagte Micha.
»Du meinst Die Reise in die Urwelt?« Er lachte. »Natürlich nicht, für wie blöd hältst du mich eigentlich? Das ist einfach nur ein verrückter Zufall, nichts weiter. Ich bin da herumgefahren und stand plötzlich vor diesem Loch im Berg. Natürlich mußte ich in diesem Moment auch an Zemans Film denken, aber er hatte sicher nicht die leiseste Ahnung, wie nah er damit der Wirklichkeit gekommen war. Außerdem sieht Zemans Höhle ganz anders aus.«
Irgendwie hätte es ihn gereizt, da hineinzufahren, erzählte Tobias. Vielleicht habe die Erinnerung an den Film dabei auch eine Rolle gespielt, aber für einen angehenden Geologen besäßen Höhlen auch so eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Er hatte sogar ein Kunststoffboot gekauft, das dort auf sie warten würde. Eine Petroleumlampe sei auch vorhanden. Alles sei vorbereitet.
Er redete lange auf ihn ein.
Die Leute in der Gegend seien sehr zugeknöpft gewesen, wenn er die Sprache auf die Höhle brachte. Unter den Einheimischen in der unmittelbaren Umgebung, offensichtlich ziemlich abergläubische Leute, galten die Höhle und der angrenzende Wald als verrufenes Gebiet, in das man sich nicht gerne hineinwagte. Nur ein zahnloser Alter habe ihm mehr erzählt. Im Flüsterton sprach er von der Teufelshöhle, die, solange man denken könne, immer wieder Opfer gefordert habe. Leute seien hineingefahren und für immer verschwunden. Tobias erzählte, ein Neffe des Alten habe zwar alles in ein englisch-deutsches Mischmasch übersetzt, dabei aber immer wieder mit der Hand vor seinen bebrillten Augen hin und her gewischt, wohl um anzudeuten, daß der Alte übergeschnappt sei und man sein Gefasel nicht ernst nehmen sollte.
Gegen Ende wurde Tobias immer nervöser. Wahrscheinlich spürte er, daß er mit seinen haarsträubenden Geschichten nicht bis zu seinem alten Schulfreund durchdrang. Micha schüttelte bei alldem nur immer wie unter Zwang den Kopf.
Nein, dazu würde Tobias ihn nie überreden können. Er war kein kleiner Junge mehr, der voller Begeisterung nach seinen Hirngespinsten griff, weil ihm selber nichts einfiel.
Aber abgesehen von dem Käfer und der Seerose und dem ganzen Unsinn mit der Reise in die Urzeit, gab es da noch etwas, das Micha brennend interessierte. Es fiel ihm schwer, Tobias danach zu fragen, aber es mußte einfach sein.
»Sag mal, noch was ganz anderes, diese Schwarzhaarige ...«
»Welche Schwarzhaarige?«
»Na die, die du neulich begrüßt hast, bei dem Colloquiumsvortrag. Sie war mit diesem Gartenzwerg da.«
»Ach, du meinst Ellen, Sonnenbergs Assistentin.«
»Das ist seine Assistentin?« Micha war verblüfft, ohne so recht zu wissen, warum. Es lag ja eigentlich nahe.
»Ja, warum nicht? Meinst du, sie sieht zu gut aus dafür?«
»Was? Nein, natürlich nicht, ich meine .«
»Na ja, sag doch, was du meinst!« In seine Augen trat ein lauernder Ausdruck. »Du bist scharf auf sie.«
»Quatsch, ich hab sie doch nur einmal gesehen.«
»Tu nicht so! Einmal reicht. Alle sind scharf auf sie.«
»Und .«
»Was und?« Tobias sah ihn forschend an, und Micha verfluchte sich schon, daß er überhaupt nach ihr gefragt hatte.
»Du willst wissen, ob ich etwas mit ihr habe, stimmt’s? Du, laß die Finger von ihr. Sie ist ein Eisblock, wunderschön, aber kalt und steif wie ein Brett.«
»Na, hör mal. Da hatte ich aber einen ganz anderen Eindruck.«
»Ja, ja, ich kenn das. Du brauchst mir nichts zu erzählen. Ich will dich nur warnen. An der hat sich schon der halbe Campus die Zähne ausgebissen.«
»Aber du nicht, oder wie?«
Tobias setzte ein derart widerliches, selbstverliebtes Grinsen auf, daß Micha ihn am liebsten gepackt und in diese Regale voller pubertärer Scheußlichkeiten geschleudert hätte. Hatte er sich dieses Grinsen angewöhnt, seit er den bescheuerten Diamanten im Zahn hatte?
»Wenn du es unbedingt genau wissen willst«, sagte Tobias, und jedes einzelne Wort traf Micha wie ein glühendes Eisen, »wir haben einmal zusammen geschlafen, vor ein paar Monaten, aber ich kann nicht gerade behaupten, daß es eine besonders beglückende Erfahrung war.«
Lügner! dachte Micha. Lügner, Lügner, Lügner. Der Kerl log doch, wenn er das Maul aufmachte. Entweder das Ganze war ein einziges Hirngespinst, Angeberei der schlimmsten, der lächerlichsten Sorte, oder es war ihm schon gekommen, als sie ihn nur einmal scharf anguckte und sich mit der Zunge die Lippen befeuchte. Verdammt, er mußte raus hier.
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