„Wir haben davon nur noch zwei“, sagte Kalaeno vom Ring.
„Sie reichen für diese Sprengung längst nicht aus.“
„Also dann mit Kerntreibstoff!“ sagte Gohati. Es war eher eine Feststellung als eine Frage.
„Ja“, bestätigte Sil. Seine Stimme klang hart.
„Wieviel von unseren Vorräten brauchen wir dazu?“ fragte Sinio von der „Kua“.
„Etwa sechzig Prozent“, schätzte Sil.
„Das bedeutet, sofortige Umkehr unserer Expedition“, gab Gohati zu bedenken.
„Der Rest reicht kaum bis Heloid“, klang es von der „Kua“. Sinio hatte schnell am Myonenhirn nachgerechnet.
„Wenn wir jetzt soviel Treibstoff opfern, können wir auch die Dilatation nicht mehr voll nutzen“, erinnerte Gohati.
Daran hatte Sil noch gar nicht gedacht. Das bedeutete für die meisten der Expeditionsteilnehmer, daß sie nicht nur ihre Expedition ergebnislos abbrechen und zurück zu Heloid fliegen mußten, sondern daß sie auch schnell altern und sterben würden, noch bevor das Raumschiff den Heimatplaneten erreichte. Nur für die Jüngsten, für Tivia und ihn, bestand Aussicht, Heloid wiederzusehen.
„Unser Kernproduktor ist vernichtet“, warnte Kalaeno.
„Und unser Expeditionsauftrag?“ fragte Sinio.
Niemand sprach mehr. Sil hörte den Sturm im Zweistromland aus den Tonträgern heulen.
„Wie sprengen? Wie zünden?“ fragte endlich nach einer unendlich lang scheinenden Pause noch einmal Aerona.
„Kernzertrümmerung! Überkritische Mengen! Die Aussätzigen! Der Atomicer bringt sie hin!“ sagte Sil schnell.
Denn das war die beste Möglichkeit, die Landenge zu sprengen, wenngleich dabei der größte Teil der Energie ungenutzt blieb. Aber Eile tat not.
„Ja“, sagte als erster Azul. Er war der Älteste. Ihm betraf diese Entscheidung am stärksten.
„Ich stimme auch zu“, hörte Sil Tivia sagen.
„Dafür“, sagte Kalaeno kurz.
„Eigenartig“, murmelte Sinio. „Noch nie überwand jemand den Großen Abgrund.“ Er hatte sich schon damit abgefunden, daß die Expedition ergebnislos umkehrte und wohl kaum noch Heloid erreichen würde.
„Es muß sein“, entschied Aerona.
„Wir sprengen“, sagte Gohati.
Es war beschlossen. Was habe ich da angerichtet, fragte sich Sil in diesem Moment bestürzt. Einen kurzen Augenblick schwankte er. Das ist doch das Todesurteil für die anderen, dachte er. Das bedeutete nun endgültig, daß die Expedition scheiterte. Wofür? Für sich vernichtende, bekämpfende Lebewesen eines fremden Planeten? — Nein, so durfte er nicht denken! Sie handelten so, damit die Bewohner dieses Planeten schon in einigen tausend Jahren selbst Raumfahrt betreiben könnten und damit die Vernunft bald unter ihnen siegte!
„Ich danke euch!“ sagte Sil leise: Dann rief er die „Kua“.
„Atomicer eben gelandet“, meldete Sinio. „Die Aussätzigen stehen schon zum Verladen der Kerntreibstoffe bereit.“
Kurze Zeit später landete auch Sil mit dem Weißen Pfeil auf dem Meer der toten Wasser. Er stieg zum Atomicer um. Sinio hatte inzwischen weitere Roboterkolonnen zum Umladen der Kerntreibstoffe eingesetzt. Sil fieberte. Jede Minute, die er früher sprengen konnte, rettete Tausenden von Menschen, die sich noch auf dem Weg zu den Fluchthügeln befanden, das Leben. Sorgfältig berechnete er die Verteilung der Kernladungen an der verriegelten Meerenge. Endlich kam das Abflugsignal. Der Atomicer startete. Die Aussätzigen waren mit an Bord. Bald hatte der schnelle Atomicer sein Ziel erreicht. Noch blieb genug Zeit, die Kraft der Flutwelle zu brechen und einen Teil des Wassers südwärts durch die gesprengte Meerenge in den Ozean zu leiten.
Zehnmal landete Sil den Atomicer auf der Landbarriere, die das Beben zwischen den beiden Wassern errichtet hatte.
Jedesmal verließen vier rote Roboter die große Landungsrakete. Sie schleppten Sicherheitsbehälter mit Kerntreibstoffen aus den Laderäumen. War Sil mit der Rakete wieder aufgestiegen, um ein Stück weiter erneut seine zerstörende Fracht abzusetzen, begannen die zurückgebliebenen Roboter ihr Werk. Die nahmen die Kernladungen aus ihren Sicherheitsbehältern und verteilten sie in unterkritischen Mengen über das Land. Zum Schluß behielt ein jeder von ihnen selbst eine der Ladungen. Hatten sie ihre Arbeit getan, so erstarrten die Bewegungen der Roboter. Sie warteten auf ihren letzten Befehl.
Endlich waren die Laderäume leer. Die Luken schlossen sich.
Wenige Minuten nur noch, und das atomare Feuer würde den mächtigen Felsriegel hinwegreißen. Der Atomicer strebte steil empor und durchbrach die Sturmzone und die wildbrodelnden Wolkenmassen. Der blaue Himmel und das goldenhelle Licht des gelben Sterns empfingen Sil. Nie hatte er den Menschenwesen wirklich helfen können. Nicht den Sklaven, die für Fremde arbeiteten, nicht den irrenden Gläubigen, die sich fragwürdige Weisheiten einreden ließen, und nicht den Sandwanderern, die noch lange heimatlos in ihrem dürren Land umherziehen mußten, ehe sie dermaleinst besser und sorgloser leben würden. Aber jetzt, dieses eine Mal, konnten sie, die Heloiden, den Menschenwesen doch helfen und sie vor dem Untergang bewahren.
Sil sah auf die Entfernungsangabe. Gleich mußte er den roten Robotern den Zündbefehl zufunken. Da schrillte plötzlich ein Notruf. Sil sah auf, schaltete den Erider zum Ring um — und erschrak heftig. Er sah auf dem Bildschirm das Innere der Kabine des Ringes. Tivia stand im offenen Ausstieg und wehrte sich verzweifelt gegen Ia-du-lin. Er versuchte, ihr den kleinen Strahlenwerfer zu entreißen. Schon hielt er die Waffe in der Hand. Er zielte auf Tivia. Sein Finger tastete nach dem Auslöser. Ungeübt, fand er ihn nicht gleich. Dieser Augenblick genügte. Tivia warf sich zur Seite und packte dabei Ia-du-lins Handgelenk. Die Mündung des Strahlenwerfers beschrieb wilde Kreise und zeigte schließlich zum Kanzeldach. Der Skaphander behinderte Tivia. Es gelang ihr nicht, ihm die gefährliche Waffe zu entwenden. Da löste Ia-du-lin den sengenden Strahl aus. Er stach ins Kanzeldach, senkte sich, streifte zischend Tivias Skaphander und fuhr wieder hoch.
Vom Kanzeldach tropfte flüssiges Panzerglas herab.
Glühendheiße Tropfen fielen auf Ia-du-lins Schulter. Er zuckte zusammen und schrie auf. Der sengende Strahl neigte sich erneut und zerfraß sein Gesicht. Er war sofort tot. Der Strahlenwerfer erlosch und fiel zu Boden. Ia-du-lins Körper sackte zusammen und stürzte durch den Ausstieg hinaus. Der Sturm draußen erfaßte ihn und rollte seinen leblosen Leib unter dem Ringflügler hervor über das lehmige Feld. Sein gelber Schutzumhang löste sich und flatterte davon. Regenschleier verdeckten die Sicht.
Im Schein eines Bündels greller Blitze erkannte Sil auf dem Bildschirm die Tempelsilhouette E-rechs.
Ein leise klagender Laut drang an sein Ohr. Sil starrte entsetzt auf die flimmernde Glasscheibe. Tivia krümmte sich vor Schmerz. An ihrer Bewegung erkannte Sil, daß sie zu ersticken drohte. Durch einen langen, klaffenden Riß drang die Stickluft des Planeten in ihren Skaphander. Tivia mühte sich, diesen Riß zuzupressen. Aber es gelang ihr nicht. Sie taumelte und stürzte. „Tivia!“ rief Sil.
Der Erider erlosch. Sil stockte der Herzschlag. Es ist vorbei, dachte er. Niemand ist an ihrer Seite. Erspart mir dieser Planet nichts? Dankten ihm so die Menschenwesen? Warum war es gerade Ia-du-lin, der ihm das Liebste aller Welten nahm?
Unsäglicher Schmerz durchdrang Sil. Sekunden vergingen, in denen der Atomicer weiter nordwärts stürmte.
Ein winziger Hoffnungsschimmer stieg in Sil auf. Hatte Tivia nicht noch im Fallen geistesgegenwärtig über die Tasten des Pilotrons gestrichen. Hatte sich nicht, kurz bevor das Bild erlosch, die Einstiegsluke zu schließen begonnen? Hatte sie, vielleicht aus Versehen, im Fallen auch das Sendegerät gelöscht? Also kämpfte Tivia noch um ihr Leben! Saugten vielleicht die Pumpen des Ringes die Stickluft ab und preßten heloidische Luft in die Kabine?
Читать дальше