Voran schritten ein hagerer Mann, ein Mädchen, fast noch ein Kind, und ein Jüngling. Hinter ihnen bewegte sich der hohe Kegel Azuls auf der Straße. Weitere Gestalten zogen heran, hohlwangig, mit tiefliegenden Augen und sich gegenseitig stützend. Das Gift der Droge hatte ihre Haut gelb gefärbt.
Azul erblickte Ia-du-lin und winkte ihm, an seiner Seite zu gehen. Der Tamkare zögerte. Er ahnte, was geschehen war. Es widerstrebte ihm, es gutzuheißen. Was die Himmelssöhne taten, war wider die althergebrachte Ordnung. Doch durfte er sie mißtrauisch werden lassen? Er gesellte sich zu Azul.
Der Hagere wandte sich um und blickte unwillig und zornig auf Ia-du-lin.
„Wir brauchen ihn“, beschwichtigte ihn Azul.
„Weshalb kam euer Feuervogel?“ fragte Ia-du-lin.
„Ich rief ihn, Unheil zu verhüten“, antwortete Azul. „Eure Priester hatten die Sags und Ur-dus mit den toten Lu-guls eingemauert und sie Gift essen lassen. Wir Sternenwanderer können nicht tatenlos zusehen, wenn Lebewesen sinnlos sterben. Wir achten das Leben!“
Der Tamkare verstand den Vorwurf nicht, der deutlich aus den Worten des Himmelssohnes zu hören war.
Der kriechende Felsblock hatte den Zug erreicht und fuhr langsam hinterdrein. Eine große Scheibe glomm rot bei ihm auf. Sie wärmte fühlbar den Rücken.
Der Zug durchschritt jetzt die Stadt. Hier war die Prozessionsstraße noch breiter als vor dem Tor draußen auf dem freien Feld. Es war die einzige breite Straße in E-rech. Zu beiden Seiten standen in gleichmäßigen Abständen steinerne Bildnisse, aus grünglasierten Ziegeln kunstvoll zusammengesetzt. Sie berichteten aus dem Leben der Götter.
Im fahlen Frühlicht ging kalter, matter Glanz von ihnen aus.
Ia-du-lin wagte nicht zu fragen, warum Azul verschwunden war. Des Himmelssohnes eisiges Schweigen und sein starres, schwebendes Gleiten beunruhigten ihn. Oder war es die Stadt, die plötzlich unbewohnt zu sein schien und die im grauen Morgenlicht Furcht einflößte? Nirgends waren Menschen zu sehen.
Doch, dort vorn am Ende der Prozessionsstraße, auf dem weiten Halbrund des Tempelplatzes, brodelte es. Wie einem geheimen Befehl folgend, waren inzwischen die Menschen der Stadt dort zusammengeströmt. Die Menge begann hin und her zu wogen, als der Zug der Auferstandenen aus den Grüften vor der Stadt sich ihr näherte. Eine breite Gasse bildete sich und ließ ihn hindurch. Nur das rasselnde Ungeheuer blieb am Rande des Platzes stehen. Eine große Klappe öffnete sich an seiner Seite. Ia-du-lin sah, wie Bahren herausgeschoben wurden. Zugedeckte Gestalten, von denen nur die müden und eingefallenen Gesichter zu sehen waren, lagen auf ihnen. Der Hagere tauchte in der Menge auf, winkte den umstehenden Sklaven und rief ihnen etwas zu. Sie sprangen herbei, packten die Bahren und trugen sie zur Freitreppe der Ziggurat.
Der Himmel im Osten färbte sich in purpurnem Frührot der aufgehenden Sonne. Es umrahmte den wuchtig aufragen den viereckigen Tempelturm. Seine sieben Stufen zeichne ten sich scharf von diesem Hintergrund ab. Über ihm schwebte mit leisem Summen der fliegende Ring. Erst jetzt ging er nieder.
Fast berührte er die Stufen der Freitreppe. Auch aus seinem Rumpf wurden Bahren herausgeschoben. Dann stieg er wieder bis über die Spitze des Stufenturmes und verhielt dort.
Hoch über den Köpfen der Menge, auf dem ersten Absatz der viereckigen Stufenpyramide, zeigte sich jetzt die schwarze Gestalt des Hohenpriesters. Über den Platz lief eine Welle der Bewegung. Mehrere andere Gestalten umgaben den Hohenpriester. Den Menschen unten auf dem Platz schien es, als sei auch En-mer-kar unter ihnen. Vor dem Turm erschien Ia-du-lin in der Gruppe der ausgemergelten Gestalten aus den Gräbern. Sein heller Umhang wehte und bauschte sich im Morgenwind. Auch der violette und der sternengelbe Kegel Sils und Azuls schoben sich die Freitreppe bis zu den Bahren herauf.
Ein Ruf vom Rande des Platzes erklang. Die vielen Menschen blickten sich dorthin um. Auf dem kriechenden Felsblock erblickten sie staunend noch eine Kegelgestalt.
Erneut lief eine Welle des Raunens vieler Menschenstimmen über den weiten Platz. Neben den Hohenpriester war eine große, schlanke und schneeweiße und eine kleinere, feuerrote Kegelfigur getreten. „Der oberste Gott der Himmelssöhne und die Schwester der Götter“, flüsterten die einen. „Das sind A-nu und I-na-nua“, flüsterten die anderen. Ein frischer Morgenwind strich über den Platz und wischte das Gewisper hinweg.
Plötzlich erscholl eine mächtige Stimme von der Ziggurat.
„Menschenwesen! Wir Himmelssöhne verachten die Lu-guls, die der Ehre ihres toten Leibes wegen lebende Menschen mit sich begraben lassen. Es ist nicht der Wille eurer Götter, Gesunde hinter den Mauern der Grüfte sterben zu sehen. Eure Priester haben das Geheimnis der Vision falsch gedeutet, als sie den Dienern und Sklaven der Lu-guls im Namen der Götter geboten, in den Tod zu gehen.
Wir, Wesen aus der Weite des Himmels, verehren alles Leben. Wir fuhren deshalb in dieser Nacht auf einem Feuer zu euch herab, nicht um euch zu ängstigen oder zu strafen, sondern um jenen Unglücklichen, die in den letzten Tagen in den Grüften eingemauert wurden und eines langsamen und qualvollen Todes sterben sollten, schnell zu helfen und sie zu retten.
Auch ihr müßt das Leben verehren und nicht den Tod. Nur dann winkt euch Menschenwesen das ewige Leben; nur dann werden künftige Generationen in die Weite des Himmels gehen und wie wir von Stern zu Stern wandern können. Wir gebieten euch gegen euren Brauch zu handeln und nie mehr Lebende in den Grüften einzumauern.
Wir kehren bald in die Weite des Himmels zurück. Aber unsichtbare Feuer auf den Hügeln der Toten vor eurer Stadt werden darüber wachen, daß ihr unserem Gebot folgt. Zeit eures Lebens darf nie eines Menschen Fuß das Hügelland betreten. Das unsichtbare Feuer wird jeden, der dieses Gebot mißachtet, töten, noch ehe ein Jahr um ist.
Menschenwesen, verehrt das Leben!“
Tivia kauerte vor dem Kontrollpunkt der Kreiselsektion.
Unablässig, seit Tagen schon, beobachtete sie die Lichtbänder, die Kurven und Meßsymbole zeigten, manchmal einschläfernd träge und manchmal aufzuckend schnell. Die neuen Kreisel wurden einem Probelauf unterzogen. Mit niedrigen Umdrehungszahlen war begonnen worden. Langsam steigerte Tivia die Tourenzahl. Zwischendurch wurde gemessen und korrigiert und wieder gemessen und wieder korrigiert, unaufhörlich. Immer wieder hatte sie durch die große Scheibe in die Vakuumkammer zu den rotierenden Riesen gesehen.
Endlich klang aus dem Kontrollpult leise ein tiefes Brummen auf, wurde lauter und steigerte sich zu einem Summen. Bald erreichten die Kreisel höchste Drehzahlen. Tivia löste den Blick vom Meßpult und sah froh dem majestätischen Tanz der bauchigen Riesen zu. Würden sie standhalten? Sie bangte.
Lange stand Tivia so. Da berührte sie jemand leicht. Sil war gekommen. Er wollte diese Augenblicke, da die Kreisel wieder summten, mit Tivia erleben. Sil lehnte sich an die Glaswand und versuchte, so wie sie die geheimnisvolle Melodie der Kreisel zu hören.
„Die Kenterprobe?“ fragte Sil nach feierlichem Schweigen.
In Tivias Augen erstrahlte bejahender Glanz. Sil eilte hinaus.
Währenddessen gingen Azul und Sinio über den weißglitzernden Salzstrand des Meeres der toten Wasser. Sie hatten in den letzten Tagen gemeinsam mit Tivia den Probelauf der Kreisel kontrolliert. Azul als Astronom hatte die genauen galaktischen Koordinaten ihrer gegenwärtigen Position, die Parameter der Bahn des blauen Planeten und andere Werte ermittelt, nach denen die Kreiselachsen eingestellt wurden, und Sinio berechnete am Myonenhirn die Differenzen zwischen Azuls und Tivias Angaben. Endlich waren die Kreisel aufs genaueste eingerichtet. Azul und Sinio verließen ihre Arbeitsplätze. Nur Tivia war noch geblieben.
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