Sinio sah sich weiter um. Der Durug stand vor einem schmalen, senkrechten Hangeinschnitt. Sinio sah genauer hin, denn dort glitzerte die Tropfentraube geschmolzenen Gesteins, so spröde und glasartig, wie sie nur von einem Strahlenwerfer herrühren konnte. Sinio näherte seinen Helm der Tropfentraube, um sie genauer zu betrachten. Radioaktive Strahlung knisterte in seinem Tongeber. Das Gestein war vor kurzem noch flüssig gewesen. Es konnte nur aus dem kleinen Loch dicht darüber im Hangeinschnitt herausgeflossen sein.
Da erblickte Sinio auf dem Boden eine kleine Kapsel. Es war Azuls Standortgeber. Hatte er sie hier verloren?
Sinio neigte sich noch einmal zur Tropfentraube hinüber, um aus dem Verlauf des ausgeschmolzenen Kanals die Schußrichtung festzustellen. Die Strahlung mußte lange angehalten haben, denn der Schußkanal war ungewöhnlich tief in das Gestein eingedrungen.
Merkwürdig! Waren da zwischen dem Knistern im Tongeber nicht auch eben die Atemzüge eines Heloiden zu hören gewesen? Sinio lauschte angestrengt. Da waren sie wieder!
Jedesmal, wenn er mit der Helmglocke in die Nähe der Einschußstelle kam, hörte er leise und regelmäßig Atemzüge.
„Azul?“ fragte er unsicher in sein Helmmikrophon hinein.
Nachdem der Standortgeber draußen herabgefallen sein mußte, wandte sich Azul wieder den Menschen in der Höhle zu. Der Hagere saß noch immer nahe der Fackel. Er schien keine Furcht zu kennen. Mit wachem, argwöhnischem Blick folgte er allen Bewegungen des Himmelssohnes. Hinter seinem Rücken versteckte sich ängstlich das Mädchen. Allen anderen hatte das Gift die Sinne geraubt oder den Verstand so weit getrübt, daß sie nichts Außergewöhnliches an der großen, ungefügen Gestalt fanden, die da plötzlich unter ihnen erschienen war.
Azul schob sich um den Karren herum auf den Hageren und das Mädchen zu. Der Hagere stand langsam auf und reckte sich stolz. Seine Augen sprühten funkelnd Verachtung. So sah man jemanden an, den man für schuldig hielt am sinnlosen Tod unschuldiger Gefährten. Plötzlich bückte sich der Hagere blitzschnell, packte die Fackel und hieb sie dem Gott, dem Sohn der I-na-nua, mit aller Kraft gegen den Leib. Das Mädchen schrie auf und floh im Funkenregen der wirbelnden Flamme in die Tiefe der Grotte zurück. Der Hagere hieb auch noch weiter, als die Fackel schon längst erloschen war und dichte Dunkelheit die Gruft füllte. Er tat es langsam, in überlegtem Rhythmus und tief und gleichmäßig atmend.
Endlich hielt er inne, warf den Fackelstiel von sich und rief das Mädchen.
Der Blick des Menschen hatte Azul aufgewühlt. Er sah die Glut auf sich zufliegen und fühlte gedämpft die dumpfen Schläge an Helm und Skaphander. Azul ließ es regungslos geschehen. Eine große Ruhe war über ihn gekommen. Nicht weil er wußte, daß der Skaphander dem Feuer und den Schlägen standhalten würde, sondern weil er fühlte, daß diese Schläge dem galten, der er nicht war, der er aber fast geworden wäre.
Als die Schläge aufhörten, stand Azul noch lange unbeweglich und lauschte in sich hinein. Er fühlte sich wieder eins mit seinen Gefährten.
Dann suchte Azul im Licht seiner infraroten Handlampe alle Fackeln zusammen, die in der Höhle noch zu finden waren. Er zündete sie mit seinem Strahlenwerfer an und stellte sie ringsum an den Wänden auf.
Verwundert sahen das Mädchen und der Hagere seinem Treiben zu. Beide standen dicht nebeneinander. Sie hatten den Zorn des Gottes erwartet und geglaubt, er werde sie als Strafe für die Schläge auf der Stelle töten. Aber nichts dergleichen geschah.
Azul trat erneut auf sie zu und sagte: „Ihr braucht euch nicht durch den geheimen Gang ins Freie zu graben. Die Sternenwanderer werden bald kommen, die Mauer am Eingang niederreißen und euch in das Dürrland zu den Sandwanderern bringen. Ihr seid dann Freie und sollt keinen Göttern und keinen Reichen mehr dienen.“
Das Mädchen möge ihr Ohr an den Boden halten. Sobald sie es leise grollen höre, solle sie es sagen. Die Flamme des Feuervogels peitsche dann draußen das Land, die Sternenwanderer seien herabgekommen, und sie würden versuchen, auch dem Jüngling das Leben wiederzugeben.
Der Mann mit dem hohen Sinn und dem starken Herzen solle die sechs Frauen und den alten Mann vom Wagen weg zur Wand der Höhle führen. Er müsse dafür sorgen, daß keines der Menschenwesen die Mitte des Raumes betrete, solange die Mauer am Eingang noch stehe.
Die Hoffnung auf ein Entkommen aus diesem Grabe ließ den Mann und das Mädchen ihren Unglauben, ihre Angst und ihr Mißtrauen vergessen. Beim beruhigenden Klang der Worte verlor der Mann seinen Haß. Beide taten, was die Stimme des Sternenwanderers ihnen riet.
Erst kurze Zeit war vergangen, als das Mädchen aufsprang, dem Hageren heftig zuwinkte und auf den Boden deutete. Sie kauerten zusammen nieder und preßten ihr Ohr in den trockenen Staub des Höhlenbodens. Deutlich vernahmen sie, was das fremde Wesen ihnen vorausgesagt hatte. Auch Azul trat jetzt an die Wand der Gruft zurück und wartete auf Zeichen von draußen. Er schaltete sein Sprechfunkgerät ein.
Die Zeit verstrich. Sollte das Mädchen sich geirrt haben? Die beiden Menschen standen ihm gegenüber an der anderen Seite der Höhle, und ihre Blicke gingen zwischen der Mauer und seiner Gestalt hin und her.
„Azul“, klang es da fragend wie aus großer Ferne in seinem Helmhörer. Und noch einmal: „Azul!“ Azul erkannte die Stimme sofort.
„Sinio! Öffne schnell die Höhle im Berg. Zerstöre die Mauer, vor der mein Standortgeber liegt. Hier sind Menschenwesen lebendig eingemauert. Die meisten von ihnen sind vergiftet.“
Die Stimme, die ihm antwortete, wurde schnell leiser und schien sich zu entfernen. Azul verstand nicht, was Sinio sagte.
Es klang wie: „Azul, du lebst noch?“
Ja, er war für sie tot gewesen. Aber jetzt gehörte er wieder zu ihnen.
Sinio starrte ungläubig auf den Hügel, an dessen Fuß er stand.
Dort im Inneren der Erde sollten Menschenwesen sein, lebendig eingemauert? Wie kam Azul zu ihnen?
Gleichviel, es mußte gehandelt werden! Abwägend betrachtete er den Hügeleinschnitt. Er erkannte eine lehmige, fast viereckige Fläche. Das mußte die Mauer sein, die den Eingang zum Inneren des Hügels versperrte.
Sinio sprang in den Durug. Nun war ihm auch klar, warum der Kybernet fast alle Hügel umsteuert hatte. Wahrscheinlich waren sie alle von Höhlen durchsetzt, und für das schwere Fahrzeug bestand die Gefahr einzubrechen.
Im Durug schaltete Sinio den Tuler, das Nachtsichtgerät, ein.
Er richtete es auf den Hangeinschnitt. Wirklich, durch die Mauer ließen sich strichförmige Wärmequellen wahrnehmen, wie sie für Lebewesen charakteristisch waren.
Vorsichtig ließ Sinio den Durug anfahren und gegen den Hügel rollen.
Hoch oben am sternenklaren Nachthimmel zog vom Horizont her ein nadelfeiner Feuerstrahl herbei, verharrte über dem Land und senkte sich dann, grell aufstrahlend, mit berstendem Heulen herab.
Gespannt starrten Azul, das Mädchen und der Hagere auf den Eingang. Würde man die Höhle öffnen?
Zuerst knirschte es. Dann bildeten sich Risse. Lehm fiel aus den Fugen. Sand und Erdreich rieselten herab, und plötzlich bauchte sich die Wand aus und fiel krachend um. Steine kollerten bis unter den Wagen. Die Fackeln flackerten heftig, leuchteten aber sogleich heller auf, als der frische Strom der eindringenden kühlen Nachtluft ihre Flamme traf.
Staubschwaden wirbelten herein. Vom Eingang zog sich rasselnd eine wuchtige dunkle Masse zurück.
Der Hagere und das Mädchen rührten sich nicht. Sie wagten nicht hinauszugehen. Zu wunderbar, was ihnen geschah.
Die sechs Frauen hoben die Köpfe. Jetzt spürten auch sie eine Veränderung in ihrer Umgebung. Sie richteten sich auf und schritten wie im Traum zum Durchbruch hin.
Читать дальше