Der Hagere trat vor und richtete seine Worte an den Gal-Uku- Patesi. „Herrscher von Ur! Der Sternenwanderer Kalaeno ist in deine Stadt gekommen, um zu erfahren, welchen Schaden die grollende Erde euch zugefügt hat. Wir wollen die Wunden der Kinder, Frauen und Männer, die die stürzenden Häuser geschlagen haben, verbinden. Der Sternenwanderer Kalaeno bittet dich, ihm zu sagen, welche Hilfe deine Stadt braucht.“
Plötzlich schob sich die Kegelgestalt heran und sagte leise: „Ich habe eben neue Nachricht erhalten. Der Stadt droht noch größere Gefahr. Ich muß dich, Herrscher, und den Hohenpriester dringend sprechen.“
Umringt von den sechs Vertrauten, erfuhren der Gal-Uku- Patesi und der Hohepriester von dem schwarzen Südsturm und der Flutwelle, die auf das Land von ferne zurasten. Der Gal- Uku-Patesi blieb ungläubig. Es war zu unbegreiflich, was da auf ihn einstürmte. Woher wollte der Himmelssohn von einem solchen Ratschluß der Götter der Unterwelt wissen?
Auch der Hohepriester zögerte, an solch eine Gefahr zu glauben. Noch schien doch, wie jedermann selbst sehen konnte, die Sonne vom Himmel herab. Außerdem hatten die Götter ihren Willen den Menschen bisher immer durch die Konstellation der Sterne kundgetan. Es war der hohen Wissenschaft vom Geheimnis der Vision vorbehalten, die Zeichen des Himmels zu deuten. „Warum senden die Götter des Himmels nur ihre Söhne, uns zu warnen? Warum wenden sie nicht das Unheil von unserer Stadt ab? Oder sind gar die Götter der Unterwelt stärker als die Götter des Himmels?“
sagte der Hohepriester von Ur.
„Kalaeno ist kein Sohn der Götter des Himmels“, rief der Hagere dazwischen. „Er ist ein Sternenwanderer!“
Vielerlei Volk hatte sich inzwischen in der engen Gasse angesammelt. Die Soldaten der Leibwache hatten Mühe, die Menge weit genug vom Herrscher, seinen Beamten, den Priestern, Kalaeno und den Vertrauten fernzuhalten. Die Menschen reckten die Köpfe hoch, um den fremden Gott zu sehen. Das Schurren ihrer Füße verschmolz mit dem Rauschen des Meeres, das von fern herüberklang.
Plötzlich wandte sich Ia-du-lin der Menge zu und rief laut: „Der Meeresgott En-ki will eure Stadt verschlingen! Flieht auf die Hügel, bevor der schwarze Südsturm beginnt. Heute nacht kommt das Wasser. Es wird auch E-rech verschlingen!“
Wie zur Bekräftigung seiner Worte fuhren einige harte Windstöße über die Stadt dahin, Staubsäulen aufwirbelnd. Die Menschen sahen auf und gewahrten, wie die Sonne hinter einen dichten Dunstschleier huschte. Erschreckte Rufe wurden laut.
Ia-du-lins Worte flogen von Mund zu Mund. „En-ki zürnt… das Meer kommt!“ hörte man es immer wie der rufen.
Kalaeno erkannte, daß er anders vorgehen mußte. Er hatte gehofft, mit der Staats- und Glaubensführung dieser Stadt Maßnahmen beraten zu können, um die Menschen ruhig, schnell und organisiert aus der Gefahrenzone zu führen. Der Herrscher und der Hohepriester aber zögerten und glaubten ihm nicht. Und Ia-du-lin verbreitete Panik. Kalaeno ermahnte Ia-du-lin. Dann wies er seine Vertrauten an. „Du gehst zu den Priestern in die Tempel und befiehlst ihnen, die Menschen aus der Stadt zu weisen“, sagte er zu Ia-du-lin. „Du, A-kim, läufst zum Meer und beobachtest es. Sobald es zurückweicht, bereitet es den Angriff vor. Dann rufe uns herbei.“ Der Hagere bekam den Auftrag, zu den Solden zu gehen, damit sie nicht falschen Befehlen ihrer Offiziere folgten und den Strom der zu den Hügel Fliehenden hinderten. Die drei aus El-Ubaid schickte er zu den Sklaven und Kaufleuten, sie zu warnen.
Die Vertrauten gingen in die verschiedenen Richtungen auseinander, um ihre Aufträge auszuführen. Einige Menschen strebten schon den Toren zu. Sie schleppten Ballen, Säcke und Krüge voller Nahrungsmittel mit sich oder trieben ihr Vieh vor sich her.
Kalaeno versuchte noch einmal, dem Herrscher und dem Hohenpriester die Gefahr begreiflich zu machen.
Da erscholl plötzlich eine mächtige Stimme aus der Luft. Der Ringflügler hing über der Stadt. Tivia ließ die Menschenwesen durch den Myonendolmetscher warnen. Die Schallgeber arbeiteten mit voller Energie. „Menschenwesen, flieht zu den fernen Hügeln! Eine Wasserwand wandert auf eure Stadt zu!
Glaubt uns Sternenwanderern! Rettet euch!“
Die Windstöße fegten jetzt schon häufiger über die Stadt hinweg, und die matte Scheibe der Sonne war kaum noch hinter drohenden Dunstschleiern zu erkennen. Tief am Horizont stand ein graublauer Strich über dem Meer. Der hastige Schritt der Menschen stockte. Sie machten sich gegenseitig darauf aufmerksam und stürzten dann um so schneller vorwärts. „Das Wasser kommt!“ schrien sie. Viele warfen alles, was sie trugen, weg, um schneller laufen zu können. Sie mochten wohl die Wolkenwand, die rasch emporwuchs, für das Wasser halten. Kalaeno ließ sie in dem Glauben.
Jetzt endlich begriffen auch der Gal-Uku-Patesi und der Hohepriester die Gefahr. Sie eilten hinweg, der Gal-Uku-Patesi zum Palast, der Hohepriester zu den Tempeln, um ihre Befehle und Anweisungen zu geben. Aber kaum einer der hohen Beamten und der Oberpriester war noch in ihrer Nähe.
Kalaeno ging durch die Gassen zur Stadt hinaus. Er sah, noch war sie voller Menschen. Sie liefen ängstlich durcheinander und schienen ratlos zu sein. Erst einzelne Gruppen zogen eilig über das Land den fernen Höhen zu.
Diese Stadt ist gewarnt. Jetzt müssen wir weiter, anderen Orten helfen, dachte Kalaeno. Er rief Tivia mit dem Ringflügler herbei. Sie flogen zu den fernen Höhen und stellten dort starke Lichtstrahler auf, damit die Menschen auch im Dunkel des Orkans den richtigen Weg fanden. Dann nahmen sie auch die Vertrauten wieder an Bord. Nur A-kim blieb allein am Meeresufer zurück.
Ia-du-lin hatte die oberste Stufe der Ziggurat erklommen. Von dort hielt er Ausschau zum Meer, das grau am Horizont schäumte. Ein starker Wind riß hier oben an ihm, Ia-du-lin mußte sich schutzsuchend an die Mauerbrüstung drücken. Er war zum Tempelbezirk geeilt, hatte eine Schar Priester um sich gesammelt und ihnen im Namen der Götter geboten, die Menschen auf die Hügel am Rande des breiten Flußtales zu treiben. Aber nur wenige Priester waren gegangen, ihren Auftrag auszuführen. Die meisten von ihnen blieben und beteten. Als der Himmel dunkler wurde und am sonst so hellen Mittag die Nacht hereinbrach, liefen sie davon, ihr Leben zu retten.
Ia-du-lin war auf den Tempelturm gestiegen und grübelte.
Bald werden die Himmelssöhne zu den Sternen zurückkehren; viel zu früh, um seine Pläne wahrzumachen, um ihre Macht auf ihn zu übertragen und ihn zu einem Großen des Zweistromlandes zu machen. Nun kam also die Stunde, in der er handeln mußte, viel früher. En-mer-kar würde vor Ia-du-lins Macht, der Macht eines Auserwählten der Himmelssöhne, weichen müssen. Er, Ia-du-lin, wollte Herrscher werden. Und wenn En-mer-kar nicht freiwillig abtrat, müßte er mit dem Zorn der Himmelssöhne drohen. Sie hatten alle, obwohl die Himmelssöhne nur Gutes taten, Angst vor ihnen. Er wußte es nur zu gut. Kaum jemand hatte begriffen, wer die Himmelssöhne wirklich waren. Man muß die Menge in dem Glauben lassen, es seien wirkliche Götter. Das war von Anfang an seine Meinung gewesen.
Eine ihrer Waffen, eines ihrer unsichtbaren Feuer, müßte man haben, dachte Ia-du-lin. Damit könnte man die Widerspenstigen, zum Beispiel den Gal-Uku-Patesi, zum Gehorsam zwingen und Macht über alle Städte des Zweistromlandes bekommen. Man konnte das Zweistromland bis zum Meer der Mitte, bis zu A-rat ausdehnen. Aber noch hatte er kein unsichtbares Feuer.
Die Zeit drängte! Bald flogen die Sternenwanderer für immer fort.
Als sie heute hier ankamen, hatte sich die Ziggurat noch klar in den dunklen Fluten des Pu-rat-tu gespiegelt, vergoldet vom Schein der Sonne. In der Ferne hatte das blaue Meer geblinkt.
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