Erst nach und nach wurde es etwas ruhiger zwischen den Zelten. Man hatte wohl erkannt, daß keine unmittelbare Gefahr drohte.
Eine Zeitlang beobachtete Ia-du-lin durch den offenen Eingang des fliegenden runden Hauses, wie Sil in seinem Zimmer hantierte. Plötzlich zeigte sich neben der violetten Gestalt noch eine sonnengelbe. Ein zweiter Gott war in dem fliegenden Haus? Das hatte Ia-du-lin nicht erwartet. Er sprang erschrocken auf, packte die Führungsleine des Esels und zerrte ihn fort. Aber wohin? Unsicher hielt er inne. Zurück in den Schatten des fliegenden Hauses wagte er sich nicht, denn vor dem zweiten Himmelssohn fürchtete er sich. Er lief hastig weiter zum Lager der Sandwanderer. Als er näher kam, merkte er zu seiner Überraschung an dem Gebaren der Männer hinter den Zelten, daß er schon ungeduldig erwartet wurde.
Die drei Ältesten des Lagers kamen ihm entgegen und luden ihn ein, in das große Zelt zu einem Mahl und zu einer wichtigen Beratung einzutreten. In ihrer großen Verwirrung, die dieser Tag für sie gebracht hatte, redeten sie ihn mit dem ungewöhnlich hohen Doppeltitel eines „Nubanda-Patesi“, eines Residenten und höchsten Beamten des Herrschers, an.
Ia-du-lin erkannte sofort die günstige Gelegenheit, die sich ihm unerwartet bot. Er begann seine neue Rolle zu spielen.
Hoheitsvoll erfüllte er die Bitte der Männer.
Ihm wurde viel Ehre zuteil. Manches, was bei den Sandwanderern nicht Sitte war, mußten sie sich bei den ehemaligen Sklaven aus El-Ubaid erfragt haben. Diese waren weit herumgekommen und hatten in den Städten Sumers schon manchen Prozessionszug zu den Tempeln gesehen. So kam es, daß Ia-du-lin mit einer wunderlichen Mischung von geistlichen und weltlichen Würdigungen bedacht wurde.
Die Krieger bildeten vor dem Eingang des großen Zeltes zu beiden Seiten in langer Reihe ein doppeltes Spalier, durch das der „Nubanda-Patesi“ nur in Begleitung der drei Ältesten des Stammes hindurchgeleitet wurde. Ia-du-lin betrat als erster das Beratungszelt. Durch die Rauchöffnung in der Spitze und durch den breiten Eingang fiel noch genug Tageslicht des heißen, sonnendurchfluteten Nachmittags herein, um den Innenraum genügend zu erhellen. Gegenüber der Türöffnung waren Ziegel zu einem Würfel aufgeschichtet worden, den man mit Fellen bedeckt hatte, so daß er einen erhöhten Sitz bildete.
Ia-du-lin nahm feierlich Platz. Dann trat der Stammesfürst ein.
Er verneigte sich tief und überreichte dem Herold schweigend die Waffen, die ihm die Patrouille abgenommen hatte, als er, am Busch sitzend, eingeschlafen war. Schließlich wurde der Esel wie ein heiliges Tier hereingeführt und neben den hohen Sitz gestellt.
Ia-du-lin hob die Hand wie bei einem Zeremoniell, stieg von seinem Thron herab und nahm langsam den dreieckigen, spitzen Stein des Himmelssohnes vom Eselrücken.
Niederkniend setzte er ihn vor seinem Sitz ab.
Dann kam ein junger Krieger, der ein großes Gefäß mit Wasser schleppte, herein. Er stellte es vor Ia-du-lin nieder, streifte ihm die Sandalen ab und wusch ihm, einer Sitte des Zweistromlandes entsprechend, die Füße.
Nun konnte das Mahl beginnen. Für die drei Ältesten wurde in der Mitte des Zeltes ein großes, sauberes Stück Ochsenhaut ausgelegt, auf der gelblichgrüne, rote und schwarze irdene Gefäße mit gebratenem Fleisch, Körnerbrei, Ziegenmilch und Bier aus Spelzweizen aufgetragen wurden. Ia-du-lin brauchte nur zu bedeuten, welche Speisen er haben wollte. Der Stammesfürst stand neben seinem erhöhten Sitz und reichte ihm, seine Wünsche erfüllend, die Schälchen. Der Tamkare dehnte das Mahl absichtlich aus, um Klarheit darüber zu gewinnen, wohin diese Zeremonie führen sollte. Aber aus den sparsamen Gebärden der Stammesältesten und dem tiefen, höflich-ehrfurchtsvollen Schweigen, das alle bewahrten, ließ sich nichts entnehmen.
Als das Mahl beendet war, traten Krieger in das Zelt. Es waren alles ausgesuchte, kampferprobte Männer. Ia-du-lin erkannte es an ihren zahlreichen Narben. Sie nahmen ringsum an der Zeltwand Aufstellung.
Die Beratung begann.
„Großer Nubanda-Patesi!“ hub einer der Ältesten an. „Wir, die Krieger, unsere Weiber und Kinder und auch unser Vieh sind voller Angst und Unruhe. Heute mittag, als du dich unserem Lager nähertest, fuhr mit einem Wind ein Ungeheuer vom Himmel herab. Sein Bauch spie einen Riesen ohne Kopf aus. Du allein, o tapferer Nubanda-Patesi und oberster Priester der Ziggurat, des großen siebenstufigen Tempels, bist dem Riesen und dem Ungeheuer mutig entgegengetreten und hast seinen Zorn mit deinem heiligen Wort besänftigt. Da nannte sich der furchtbare Riese Himmelssohn. Welcher deiner Götter ist er? Erteile uns deinen Rat, o hoher Priester, welche Opfergabe wir diesem Gott bringen müssen, damit er sich wieder entferne.“
Ia-du-lin saß lange unbeweglich und blickte starr geradeaus, so als hätte er die Rede des Ältesten nicht vernommen. Er dachte aber angestrengt darüber nach, welche Antworten auf diese schwierigen Fragen zu geben waren.
Geduldig wartete die Versammlung.
Ia-du-lin war sich noch nicht schlüssig. Da hörte er es vor sich im heiligen Stein wieder ticken, knacken und surren. Das kam ihm gelegen. Obwohl es still war im Zelt, hob er plötzlich Ruhe heischend die Hand. „Der heilige Stein spricht“, sagte er und beugte sich lauschend vor. Jetzt erstarb selbst das Rascheln der Gewänder. Alle horchten atemlos. Und wirklich, ein jeder vermochte wahrzunehmen, wie es sich in dem heiligen Stein regte.
Als diese Geräusch erstarben und sich nicht wiederholten, richtete sich Ia-du-lin aus seiner gebeugten Haltung auf.
Bewegung ging durch die Reihen der Männer, und hier und da kam ein scheues, ehrfurchtsvolles Wispern und Murmeln auf.
Der Tamkare hob erneut seine Hand.
„Sil, der Himmelssohn, I-na-nuas Sohn, ist aus den Wolken herabgefahren, um den heiligen Stein zur Erde zu bringen“, verkündete Ia-du-lin. „Sil hat den heiligen Stein mir, seinem treuen Diener, übergeben, damit ich ihn heim nach E-rech führe und ihn aufstellen lasse im neuen Tempel der I-na-nua, den En-mer-kar erbauen ließ und der mit Lapislazuli und Karneolen ausgeschmückt werden wird. Überall, wo diesem heiligen Stein Unheil droht, und immer, wenn in seiner Nähe Unrecht geschieht, erscheint Sil, um die Untat zu sühnen. Eure Männer, die mich heute fesselten und mich von meinem Wege hinwegführten, sollen bestraft werden. Doch ich werde für sie bitten. Der heilige Stein hat eben zu mir gesprochen und gefordert, daß sich alle, die hier anwesend sind, morgen mittag, wenn die Sonne den Zenit erreicht, wieder hier einfinden. Der Stein wird dann abermals sprechen und die Strafe verkünden.“ Ein Raunen ging durch die Runde.
Als es wieder ruhig war, fuhr Ia-du-lin fort: „Die Opfergabe, die ihr Sil bringen müßt, soll groß sein. Führt eine eurer Herden morgen noch vor dem Mittag zu dem fliegenden Haus des Himmelssohnes. Er wird bestimmen, was mit den Tieren geschehen soll.“
Damit war Ia-du-lin am Ende. Zum Zeichen dafür erhob er sich, stieg von seinem erhöhten Sitz herab und ließ sich zu ebener Erde neben dem spitzen Stein des Himmelssohnes nieder. Die Krieger, der Ältestenrat und der Stammesfürst verließen das große Beratungszelt, sich zum Dank tief verneigend.
Der Tamkare blieb allein. Man hatte ihm bedeutet, daß er in diesem Zelt auch wohnen durfte.
Gegen Abend verließ Ia-du-lin sein Zelt. Er zeigte sich im Lager der Sandwanderer und genoß die Ehrfurcht, die man ihm überall bewies. Den Esel, der sich im Zelt niedergelassen hatte, trieb er hinaus und führte ihn auf die grünste und saftigste Weide des Hügelhanges nahe der Quelle.
Dann stieg er den Hügel hinauf und überschaute von dort aus weit das Dürrland. Die untergehende Sonne umspielte ihn mit ihren roten Strahlen. Lange stand er einsam dort oben, unbeweglich und sinnend, ob es ihm gelingen könnte, in E-rech diese Ehrungen und diese Würden zu erlangen, die ihm hier unerwartet beschert wurden. Er überlegte, ob er, gestützt von der Macht des Steines, danach trachten sollte, die Stellung eines Nubandas zu erlangen oder die eines Hohenpriesters. Ia- du-lin konnte sich nur schwer entscheiden. Er wollte es den Umständen überlassen, die er in E-rech vorfinden würde.
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