"Dad, lieber Dad! Mir ist es gleich, wie alt du bist, es wird mir immer gleich sein! Mir ist überhaupt alles gleich! Ach, Dad!" schrie er und weinte. "Ich hab dich so lieb."
Da schlug Charles Halloway die Augen auf. Er sah sich und die anderen seinesgleichen und seinen Sohn, der hinter ihm mit zitternder Hand das Streichholz hielt, während seine Tränen ihm über das Gesicht liefen. Und plötzlich sah er wieder das Bild der Hexe vor sich, die Bibliothek fiel ihm ein, erst die Niederlage, dann der Sieg. Die Bilder vermischten sich mit dem Krach eines Schusses, dem Flug der markierten Kugel, dem Drängen der fliehenden Menge.
Nur eine Sekunde noch starrte er seine Ebenbilder, seinen Sohn an, dann löste sich ein leiser Laut von seinen Lippen. Ein lauterer Ton folgte.
Und dann endlich gab er dem Irrgarten, den Spiegeln, der Zeit vor und um und über und hinter und unter ihm die einzig mögliche Antwort.
Er öffnete weit den Mund zu einem lauten, befreienden Gelächter. Wäre die Hexe noch am Leben gewesen, so hätte sie diesen Ton wiedererkannt; sie wäre noch einmal daran gestorben.
Fünfzigstes Kapitel
Jim Nightshade hatte den Irrgarten durch den Hinterausgang verlassen, um ziellos über die Festwiese zu rennen. Er hielt inne.
Der Illustrierte Mann lief irgendwo zwischen den schwarzen Zelten dahin. Er hielt inne.
Der Zwerg erstarrte.
Das Skelett drehte sich um.
Alle hatten es gehört.
Nicht den Laut, der von Charles Halloways Lippen kam, nein. Erst war es nur ein Spiegel, dann ein zweiter, dann kam eine Pause, dann ein dritter Spiegel, ein vierter und dann noch einer und noch einer und noch einer; sie folgten aufeinander wie Dominosteine. Erst bildeten sich feine Spinnweben auf ihren blank starrenden Oberflächen, dann gingen sie mit feinem Klirren und hartem Knall zu Bruch.
In der einen Minute gab es noch diese unglaubliche Jakobsleiter aus Glas, die sich in die Unendlichkeit entfaltete und doch Bilder, wie trockene Blüten im Buche des Lichts gepreßt, enthielt – in der nächsten Minute war alles wie unter dem Aufprall eines stürzenden Meteors zerborsten.
Der Illustrierte Mann blieb stehen, lauschte, tastete nach den eigenen Augen, die bei dem Geräusch fast ebenfalls sprangen und zerklirrten.
Es war, als hätte Charles Halloway, wieder in einen Chorknaben zurückverwandelt, in einer eigenartigen Unterweltskirche das schönste hohe C seines Lebens voller Lebensfreude gesungen. Zuerst ließ es das Mottensilber von der Rückseite der Spiegel platzen, dann schüttelte es die Gesichter von den Glastafeln, dann ließ es das Glas selbst bersten. Ein Dutzend, hundert, tausend Spiegel mit den gealterten Ebenbildern Charles Halloways sanken im lieblichen Mondlicht auf Schnee und gekräuseltem Wasser zu Boden.
Das alles kam von dem Laut aus seinen Lungen, den er durch Kehle und Lippen freisetzte.
Das alles, weil er sich schließlich mit allem abfand, mit dem Zirkus, mit den Bergen dahinter, den Menschen in den Bergen, Jim, Will und vor allen Dingen mit sich selbst und seinem Leben. Er nahm alles hin, wie es war, warf zum zweiten Mal seinen Kopf in den Nacken und ließ seine Zufriedenheit vernehmen.
Und siehe da – wie Jerichos Mauern unter den Posaunenstößen, so ließ das Glas vor dem klingenden Ton seine Geister frei, und Charles Halloway konnte befreit aufjubeln.
Er nahm die Hand vom Gesicht. Erfrischender Sternenschimmer und die matten Lichter des Zirkus drangen ein und machten ihn frei. Die toten Gesichter aus den Spiegeln waren verschwunden, untergegangen in einem klingenden Erdbeben, begraben unter den klirrenden Splittern zu seinen Füßen. "Licht! Licht!"
Noch mehr Wärme klang aus einer fernen Stimme.
Der Illustrierte Mann erwachte aus seiner Erstarrung und tauchte zwischen den Zelten unter. Die Menge hatte sich verlaufen.
"Dad, was hast du nur getan?"
Das Streichholz verbrannte Wills Finger. Er ließ es fallen. Doch nun reichte der matte Lichtschein, um Dad zu erkennen, wie er sich durch die Trümmer schob und mit den Schuhen das zersplitterte Spiegelglas aufwühlte, wie er sich den Weg zurück durch die Leere suchte, die einmal das Spiegelkabinett gewesen war. Aber den Irrgarten gab es nicht mehr.
"Jim?"
Eine Tür stand offen. Das bleiche, matter werdende Licht des Zirkus fiel herein und ließ sie die Wachsfiguren von Mördern und Ermordeten erkennen.
Jim saß nicht zwischen ihnen.
"Jim!"
Sie starrten die offene Tür an, durch die Jim hinausgeflohen war, um sich draußen in der schwirrenden Nacht zwischen Zeltbahnen zu verirren.
Die letzte Glühbirne ging aus.
"Jetzt werden wir ihn nie finden", sagte Will.
"Doch!" antwortete sein Vater aus dem Dunkel. "Wir werden ihn finden."
Wo, dachte Will und blieb stehen.
Weit unten, am Ende des Mittelganges, dampfte das Karussell, die Zirkusorgel quälte sich Töne ab.
Dort, dachte Will. Wenn wir Jim irgendwo finden, dann sicher dort bei der Musik. Der komische alte Jim hat sicher seine Freikarte noch in der Tasche, möchte ich wetten! "Verdammter Jim, verdammter, verdammter!" schrie er und dachte dann: Nein! Tu's nicht, vielleicht ist er schon verdammt, oder doch nahe dran. Aber wie finden wir ihn im Dunkel, ohne Licht, ohne Streichhölzer, zu zweit gegen alle anderen auf ihrem eigenen Gelände.
"Wie...", sagte Will laut.
Doch sein Vater sagte nur sehr leise: "Da!" Es klang dankbar.
Will trat in die Tür. Sie schimmerte jetzt heller.
Der Mond! Gott sei Dank!
Er ging über den Hügeln auf.
"Die Polizei?"
"Keine Zeit. Auf die nächsten paar Minuten kommt es an. Um drei Leute müssen wir uns kümmern..."
"Die Mißgeburten!"
"Drei Menschen, Will. Erstens Jim. Zweitens Mr. Cooger, der auf seinem elektrischen Stuhl brät. Drittens Mr. Dark und die in seine Haut eingeätzten Seelen. Den einen müssen wir retten, die beiden anderen zur Hölle schicken, erledigen. Ich denke, dann werden die Mißgeburten auch verschwinden. Bist du bereit, Will?"
Will betrachtete die Tür, die Zelte, die Finsternis, den Himmel, den ein neuer, matter Lichtschein erhellte.
"Gott segne den Mond."
Sie hielten sich fest an den Händen und traten aus der Tür.
Wie zu ihrer Begrüßung ließ der Wind die schwarzen Zeltbahnen auf und nieder flattern wie die todbringenden Schwingen eines gewaltigen prähistorischen Flugdrachen.
Einundfünfzigstes Kapitel
Sie liefen erst im Uringestank der Schatten, dann im sauberen eisigen Geruch des Mondlichts dahin.
Die Zirkusorgel schnaufte, prustete, trillerte.
Die Musik, überlegte Will. Läuft sie nun vorwärts oder rückwärts?
"Wo geht's weiter?" flüsterte Dad.
"Hier durch!" Will streckte die Hand aus.
Hundert Schritte weiter, am Fuß eines aufragenden Zelts, sprühten blaue Funken hoch und sanken wieder herab, dann wurde es dunkel wie zuvor.
Mr. Elektriko, dachte Will. Sie wollen ihn wegschaffen. Zum Karussell bringen, ihn ermorden oder heilen! Und wenn sie ihn retten – mein Gott –, dann stehen er mit seinem Zorn und der Illustrierte Mann gegen Dad und mich! Und Jim? Ja, wo steckte Jim nur? Heute hier, morgen dort – und heute nacht? Auf wessen Seite würde er nachher wohl stehen? Auf unserer! Jim, guter alter Freund! Natürlich auf unserer Seite. Doch Will zitterte. Dauern Freundschaften denn wirklich ewig? Kann man sie in der Ewigkeit als schöne runde Summe mit einbringen?
Will sah nach links.
Dort stand der Zwerg, halb eingehüllt von der Zeltklappe, regungslos.
"Sieh mal, Dad!" rief Will leise. "Und dort drüben – das Skelett!" Noch ein Stück weiter stand der Lange, der Mann aus Marmorknochen und ägyptischem Papyrus als Haut. Er stand da wie ein abgestorbener Baum.
"Die Mißgeburten – warum tun sie uns nichts?"
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