Charles Halloways Fuß berührte die unterste Stufe des erhöhten Podiums.
Die Hexe zitterte insgeheim.
Mr. Dark witterte ein Geheimnis und warf dem Mann einen scharfen Blick zu. Dann streckte er diesem vierundfünfzigjährigen Mann rasch die Hand entgegen.
Doch der vierundfünfzigjährige Mann schüttelte den Kopf, gab ihm die Hand nicht, ließ sich nicht hinaufhelfen.
"Danke – nein."
Als Charles Halloway auf der Bühne stand, winkte er der Menge zu.
Hin und wieder applaudierte jemand, als ob man ein paar Knallfrösche losläßt.
"Aber..." Mr. Dark tat erstaunt. "Aber Ihre linke Hand, Sir. Wenn Sie nur eine Hand gebrauchen können, dann können Sie doch keine Flinte halten und abfeuern."
Charles Halloway erbleichte.
"Ich schaff es schon", sagte er. "Auch mit einer Hand."
"Hurra!" schrie unter ihm ein Junge.
"Gut so, Charlie!" rief dahinter ein Mann.
Mr. Dark wurde vor Zorn rot, als die Leute jetzt noch lauter lachten und klatschten. Er wehrte mit beiden Händen die Wogen erfrischenden Beifalls ab, der wie Regen von den Zuschauern her auf ihn niederprasselte.
"Schon gut, schon gut, sehen wir erst mal, ob er's schafft!"
Heftig packte der Illustrierte Mann eine Flinte, riß sie aus dem Ständer und schleuderte sie durch die Luft.
Die Menge hielt den Atem ab.
Charles Halloway duckte sich. Er hob die rechte Hand.
Die Waffe klatschte gegen seine Handfläche. Er packte zu. Sie fiel nicht herunter. Er hatte sie fest im Griff.
Die Zuschauer johlten und beschimpften Mr. Dark wegen seiner schlechten Manieren. Er wandte sich eine Sekunde lang ab und verfluchte sich selbst.
Strahlend hob Wills Vater die Flinte.
Die Menge brüllte.
Und während die Woge des Applauses sich brach und das Ufer entlangrollte, sah er wieder in die tausend Spiegel, wo die erahnten, doch ungesehenen Umrisse von Will und Jim zwischen den gigantischen Rasierklingen von Enthüllung und Illusion verharrten. Dann wandte er sich wieder dem Medusenblick von Mr. Dark zu, rasch und abschätzend, dann weiter zu der gesichtslosen, zitternden Norne der Mitternacht, die sich immer mehr in den Hintergrund drängte. Sie stand nun schon am anderen Ende der Tribüne und drängte sich an die schwarz-rote Zielscheibe.
"Junge!" rief Charles Halloway.
Mr. Dark erstarrte.
"Ich brauche einen Jungen, der mir freiwillig die Flinte halten hilft", rief Charles Halloway.
"Los! Irgendeiner!" fügte er hinzu.
In der Menge scharrten ein paar Jungen verlegen mit den Füßen im Staub.
"Mein Junge!" rief Charles Halloway. "Bleib stehen.
Dort ist mein Sohn. Er wird sich freiwillig melden, wie, Will?"
Die Hexe hielt eine Hand in die Luft, um die Welle der Kühnheit zu ertasten, die wie ein Fieber von dem vierundfünfzigjährigen Mann ausging. Mr. Dark fuhr herum, als hätte ihn eine Schrotladung voll getroffen.
"Will!" schrie der Vater.
Will saß regungslos im Wachsfigurenkabinett.
Die Leute sahen nach links, nach rechts, hinter sich.
Keine Antwort.
Will hockte im Wachsmuseum.
Mr. Dark beobachtete das alles mit einer Mischung aus Achtung, Bewunderung, Besorgnis. Er schien genauso abzuwarten wie Wills Vater.
"Los, Will, komm doch und hilf deinem Alten!" rief Charles Halloway in kameradschaftlichem Ton.
Will saß im Wachsmuseum.
Mr. Dark lächelte.
"Will! Willy! Komm hierher!"
Keine Antwort.
Mr. Darks Lächeln wurde breiter.
"Willy! Hörst du denn deinen alten Vater nicht?"
Mr. Darks Lächeln verblaßte.
Die letzte Frage kam nämlich von einem Mann unter den Zuschauern.
Die Menge lachte.
"Will!" rief eine Frau.
"Willy!" schrie eine andere.
"Juhuh!" johlte ein älterer Herr mit Bart.
"Los, komm doch, Will!" Das war ein Junge.
Lachend stießen sich die Menschen mit den Ellbogen an.
Charles Halloway rief. Sie riefen. Charles Halloways Ruf hallte zu den Bergen hin. Ihr Rufen klang bis hin zu den Bergen.
"Will! Willy! Wil-ly!"
In den Spiegeln huschte und zitterte ein Schatten.
Der Hexe liefen Bäche von Schweiß über das Gesicht.
"Da!"
Die Menge hörte zu rufen auf.
Auch Charles Halloway verstummte. Er brachte den Namen seines Sohnes nicht mehr über die Lippen und stand schweigend da.
Will erschien im Eingang des Spiegelkabinetts und sah aus wie die Wachsfigur, zu der er beinahe geworden war.
"Will!" rief sein Vater leise.
Der Klang der sanften Stimme ging der Hexe durch Mark und Bein.
Will bewegte sich wie eine Marionette durch die Zuschauermenge.
Sein Vater hielt ihm den Gewehrkolben als Stock hin und zog ihn zu sich herauf.
"Da habt ihr meine gesunde linke Hand!" verkündete Charles Halloway.
Will sah und hörte nichts von dem rauschenden Beifall des Publikums.
Mr. Dark hatte sich nicht geregt, doch Charles Halloway merkte die ganze Zeit über, wie in seinem Kopf Kanonenschläge losgingen. Einer nach dem anderen verzischten sie und erstarben. Mr. Dark hatte keine Ahnung, was die beiden planten. Das wußte übrigens auch Charles Halloway nicht. Ihm war, als hätte er diese Szene für sich selbst geschrieben, all die vielen Jahre in der Bibliothek, in den vielen Nächten; er hatte das Manuskript erst auswendig gelernt und es dann zerrissen und nun vergessen, was er auswendig gelernt hatte. Er verließ sich auf das geheimnisvolle Wirken seines Unterbewußtseins und spielte auswendig weiter – nein! Er spielte, was Herz und Seele ihm eingaben. Und nun?
Seine strahlenden Zähne schienen die Hexe noch blinder zu machen. Unmöglich! Mit einem Ruck hob sie die Hand zu den Gläsern, den zugenähten Lidern!
"Alles näher kommen!" rief Wills Vater. Die Zuschauer drängten sich dichter heran. Die Bühne war wie eine Insel. Das Meer waren die Menschen.
"Jetzt achtet auf das Ziel!"
Die Hexe schmolz in ihren Lumpen dahin.
Der Illustrierte Mann wandte sich nach links und fand keine Unterstützung bei dem Skelett, das nur noch hagerer erschien; fand keine Hilfe bei dem Zwerg, der idiotisch-gleichgültig vor sich hin starrte.
"Die Kugel, bitte", sagte Wills Vater liebenswürdig.
Die tausend Zeichnungen auf der zuckenden Haut hörten die Aufforderung nicht, warum sollte Mr. Dark sie hören?
"Wenn Sie so nett sein wollen – die Kugel, bitte", wiederholte Charles Halloway. "Damit ich der alten Hexe den Floh von der Warze schießen kann."
Will stand regungslos da.
Mr. Dark zögerte.
Draußen in der bewegten See breitete sich Lächeln aus, hier und da, hundert, zweihundert, dreihundert Zeugen lächelten, als hätte der Mond seine Anziehungskraft ausgeübt. Dann verebbte die Flutwelle.
Mit einer langsamen Handbewegung streckte der Illustrierte Mann ihm die Kugel hin. Mit einer zähen, schlangenartigen Bewegung hielt er die Kugel erst dem Jungen vor die Nase, um festzustellen, ob er sie bemerkte. Will sah nichts.
Sein Vater nahm das Geschoß.
"Kratzen Sie Ihre Anfangsbuchstaben hinein", sagte Mr. Dark mechanisch.
"Das genügt mir nicht!" Charles Halloway hob die Hand seines Sohnes und legte die Kugel hinein, damit er sie festhalte. Dann klappte er mit seiner gesunden Hand das Taschenmesser auf und markierte das Blei mit einem seltsamen Symbol.
Was ist eigentlich los, überlegte Will. Ich weiß, was passiert. Oder weiß ich nicht, was passiert? Was eigentlich?!
Mr. Dark sah auf der Kugel einen aufgehenden Mond eingekratzt und fand daran nichts zu beanstanden. Er schob die Kugel in den Lauf und warf Wills Vater die Flinte wieder zu. Der fing sie genau so geschickt wie vorhin auf.
"Fertig, Will?"
Das rosige Gesicht des Jungen senkte sich in der Andeutung eines Nickens.
Charles Halloway warf dem Spiegelkabinett einen letzten Blick zu und dachte: Jim, bist du immer noch drin? Mach dich fertig!
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