Mr. Dark wandte sich ab, um seine Staubhexe zu beruhigen, zu tätscheln, ihr zuzureden, aber dann hielt er mitten in der Bewegung inne, als das Flintenschloß wieder aufschnappte. Wills Vater ließ die Kugel herausspringen, um die Zuschauer davon zu überzeugen, daß sie noch vorhanden war. Sie sah zwar echt aus, doch er hatte vor langer Zeit gelesen, daß es sich um eine Ersatzkugel handelte, die aus einem harten, stahlfarbenen Wachs bestand. Wenn man sie abschoß, dann verflüchtigte sie sich vor dem Flintenlauf in einem Dampfwölkchen. Der Illustrierte Mann hatte geschickt die Kugeln ausgetauscht und legte der zitternden Staubhexe genau in diesem Augenblick die echte Bleikugel in die Hand. Sie mußte die Kugel in der Wange verstecken. Beim Knall des Schusses hatte sie wie unter einem Aufprall zu schwanken und dann die angeblich mit ihren gelben Rattenzähnen aufgefangene Kugel vorzuzeigen. Tusch! Applaus!
Der Illustrierte Mann sah Charles Halloway mit geöffnetem Flintenschloß, mit der Wachskugel, dastehen.
Doch Halloway verriet nicht, was er wußte, sondern sagte nur: "Ritzen wir unser Zeichen lieber etwas deutlicher ein, meinen Sie nicht auch?" Wieder hielt der Junge die Kugel in seiner gefühllosen Hand. Und wieder ritzte Charles Halloway mit dem Taschenmesser denselben geheimnisvollen aufgehenden Mond in das glatte Wachs. Dann schob er die Kugel wieder in den Lauf.
"Fertig?!"
Mr. Dark sah die Hexe an.
Die zögerte, dann nickte sie matt.
"Fertig!" verkündete Charles Halloway.
Er war rings umgeben von den Zelten, der atmenden Menschenmenge, den besorgten Mißgeburten, einer vor Panik erstarrten Hexe, dem versteckten Jim, der noch gefunden werden mußte, einer uralten Mumie, die immer noch, blaues Feuer spuckend, auf dem elektrischen Stuhl angeschnallt dasaß, einem Karussell, das nur darauf wartete, bis die Vorstellung zu Ende war, die Leute gingen und der Zirkus mit den Jungen und dem alten Hausmeister fertig werden konnte.
Charles Halloway hob die plötzlich sehr schwere Flinte an die Wange und sagte im Plauderton zu seinem Sohn:
"Will, ich stütze mich hier auf deine Schulter. Heb den Lauf ganz vorsichtig in der Mitte an. Mit einer Hand.
Hier, nimm schon, Will." Der Junge hob die Hand. "Gut so, mein Sohn. Wenn ich ›Achtung!‹ sage, dann halt den Atem an. Verstehst du mich?"
Der Kopf des Jungen erbebte in einer kaum merklichen Bestätigung. Er schlief. Er träumte. Es war ein Alptraum.
Und in seinem Alptraum geschah das.
Zuerst hörte er seinen Vater rufen: "Damen! Herren!"
Der Illustrierte Mann ballte die Faust. In der Faust zermalmte er Wills Abbild wie eine trockene Blume.
Will wand sich.
Der Lauf senkte sich.
Charles Halloway tat, als merkte er es nicht.
"Will hier ist mein gesunder linker Arm, auf den ich mich verlassen kann. Ich und er, wir beide werden jetzt gemeinsam den einmaligen, sensationellen, äußerst gefährlichen und zuweilen tödlichen Kugeltrick vorführen!"
Beifall. Gelächter.
Rasch und jugendlich legte der vierundfünfzigjährige Hausmeister den Lauf der Waffe auf die zuckende Schulter des Jungen.
"Hörst du, Will? Hör mir gut zu! Es ist für uns!"
Der Junge lauschte. Der Junge wurde ruhiger.
Mr. Dark preßte die Faust härter zusammen.
Will befiel eine leichte Lähmung.
"Wir werden den Nagel genau auf den Kopf treffen! Stimmt's, mein Junge?"
Das Lachen schwoll an.
Und der Junge mit dem Flintenlauf auf der Schulter wurde tatsächlich sehr ruhig. Mr. Dark preßte die Fingernägel in das rosige Gesicht, das in seiner Faust verborgen lag, doch der Junge wurde bei der Stimmung, die ihn umgab, immer heiterer. Sein Vater deklamierte weiter.
"Zeig der Dame deine Zähnchen, Will!"
Will zeigte der Frau vor der Kimme seine Zähne.
Das Gesicht der Hexe wurde völlig blutleer.
Jetzt entblößte auch Charles Halloway seine Zähne, soweit sie noch vorhanden waren.
In die Staubhexe zog der Winter ein.
Unter den Zuschauern meinte jemand: "Junge, ist die großartig! Sie tut richtig furchtsam. Schau nur!"
Ich schaue schon, dachte Wills Vater. Seine Linke hing ihm nutzlos an der Seite herab, die Rechte hatte er am Abzug der Flinte, das Gesicht dicht am Visier. Sein Sohn stand stocksteif, und das Gesicht der Hexe war haargenau im Visier, vor der Zielscheibe. Dann kam der letzte, allerletzte Augenblick, der Gedanke: Eine Wachskugel im Schloß, was kann eine Wachskugel schon anrichten?
Eine Kugel, die sich unterwegs in Nichts auflöst, was nützt die schon? Was wollen wir hier? Was können sie uns tun? Albern, das alles.
Nein, dachte Wills Vater. Hör auf damit!
Er verscheuchte die Zweifel.
Er spürte, wie seine Lippen lautlose Worte formten.
Doch die Hexe hörte, was er sagte.
Im ersterbenden Gelächter, noch ehe der warme Beifall ganz verebbt war, formte er lautlos mit den Lippen die Worte:
Der aufgehende Mond, den ich auf die Kugel geritzt habe, ist kein aufgehender Mond.
Er ist mein eigenes Lächeln.
Ich habe der Kugel im Lauf mein Lächeln aufgeprägt.
Er sagte es nur einmal.
Er wartete, bis sie verstanden hatte. Dann sagte er es, lautlos, noch einmal.
Im nächsten Augenblick, noch bevor der Illustrierte Mann ebenfalls die Worte übersetzen konnte, rief er: "Achtung!"
Will hielt die Luft an. Weit weg, zwischen den Wachsfiguren, saß Jim versteckt, Speichel tropfte ihm übers Kinn. Die gefesselte Mumie auf dem elektrischen Stuhl summte zwischen den Zähnen, tot-lebendig. Mr. Darks Illustrationen zuckten unter klebrigem Schweiß, als er ein letztes Mal die Faust ballte – zu spät! Gelassen hielt Will still. Ebenso gelassen und ruhig sagte sein Vater: "Jetzt!"
Der Schuß krachte.
Achtundvierzigstes Kapitel
Ein Schuß!
Die Hexe schnappte nach Luft.
Jim im Wachsmuseum schnappte nach Luft.
Im Schlaf schnappte Will nach Luft.
Sein Vater auch.
Und Mr. Dark.
Alle Mißgeburten hielten die Luft an.
Und die Zuschauermenge.
Die Hexe schrie gellend auf.
Jim stieß zwischen den Wachspuppen die Luft aus seinen Lungen.
Auf der Bühne schrie Will sich selbst wach.
Der Illustrierte Mann gab einen wütenden Laut von sich und hob beschwörend die Hände, um alles ungeschehen zu machen.
Aber die Hexe stürzte. Sie fiel von der Tribüne. Sie fiel in den Staub.
Charles Halloway hielt die rauchende Flinte in der gesunden Hand und atmete langsam die aufgestaute Luft aus. Er spürte jedes Quentchen davon, wie es ihm über die Lippen kam. Dabei blickte er immer noch über Kimme und Korn nach der Stelle, an der eben noch die Hexe gestanden hatte.
Mr. Dark stand an der Kante der Bühne und starrte auf die schreiende Menge hinab – und auf den Grund ihrer Erregung.
"Sie ist ohnmächtig..."
"Nein, sie ist nur ausgerutscht."
"Sie ist – erschossen!"
Endlich trat Charles Halloway neben den Illustrierten Mann und sah ebenfalls hinab. Seine Miene drückte vielerlei aus: Überraschung, Bestürzung, gleichzeitig aber auch eine Spur von eigenartiger Erleichterung und Befriedigung.
Die Frau wurde aufgehoben und auf die Bretter gelegt.
Ihr Mund stand offen, auf ihrer Miene lag fast ein Ausdruck des Erkennens.
Er wußte, daß sie tot war. Im nächsten Augenblick würde es auch die Menschenmenge erfassen. Er sah zu, wie der Illustrierte Mann sie berührte, nach Leben fühlte.
Dann hob Mr. Dark ihre beiden Hände hoch, wie bei einer Puppe, die an Fäden hängt, um sie wiederzubeleben. Doch der Leib machte nicht mit.
Da reichte er einen Arm der Hexe dem Zwerg, den anderen dem Skelett. Während die Leute zurückwichen, schüttelten sie die schlaffe Gestalt in einer gespenstischen Karikatur von Wiederbelebungs-Versuchen.
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