»Möchten Sie reiten?« fragte Colin, schon von Sattel kletternd.
Sie schüttelte den Kopf. »Das Aufsitzen und Absteigen schmerzt mehr als das Gehen.« Sie blickte über die Senke zum jenseitigen Höhenzug. Der Wald endete dort in halber Höhe, und darüber lagen die verschneiten Weideflächen. Es mußte zu schneien aufgehört haben, obwohl Dunworthy es nicht bewußt wahrgenommen hatte. Die Wolkendecke riß auf, und zwischen ihnen zeigte sich der Westhimmel lilarosa und orangefarben.
»Er hielt mich für die heilige Katharina«, sagte sie. »Er sah mich durchkommen, wie Sie es befürchtet hatten. Er dachte, ich sei von Gott gesandt worden, um ihnen in ihrer Stunde der Not beizustehen.«
»Ja, und das haben Sie getan, nicht?« sagte Colin. Er zog ungeschickt an den Zügeln, und der Hengst setzte sich in Bewegung. Kivrin ging neben ihm. »Sie hätten sehen sollen, wie furchtbar es in dem anderen Dorf aussah, wo wir waren. Überall Leichen, manchen hatten sie Stricke um die Hälse geknotet und sie durch den Schnee zum Friedhof gezogen. Aber ich glaube nicht, daß jemand ihnen geholfen und die Toten begraben hat.«
Er ließ sich aus dem Sattel gleiten und gab Kivrin die Zügel. »Ich gehe nachsehen, ob das Netz offen ist«, sagte er und eilte davon. »Badri wollte es alle zwei Stunden öffnen.« Er brach durch das Weidendickicht und verschwand.
Kivrin brachte den Hengst am Fuß der Anhöhe zum Stehen und half Dunworthy herunter.
»Wir müssen ihm Sattel und Zaumzeug abnehmen«, sagte Dunworthy. »Als wir ihn fanden, war er halb verhungert, weil die Zügel sich in einem Weißdorn verfangen hatten.«
Zusammen lösten sie den Sattelgurt, nahmen ihm den Sattel ab, und Kivrin hakte die Trense auf, nahm dem Hengst das Zaumzeug ab und streichelte ihm den Kopf.
»Er wird schon durchkommen«, meinte Dunworthy.
»Vielleicht«, sagte sie.
Colin brach durch die Weiden, daß der Schnee von den Zweigen flog. »Es ist nicht da.«
»Es wird sich bald öffnen«, sagte Dunworthy.
»Nehmen wir das Pferd mit?« fragte Colin. »Ich weiß, daß Historiker nichts in die Zukunft mitnehmen dürfen, aber es wäre fein, wenn wir es machen könnten. Dann könnte ich den Hengst reiten, wenn ich an den Kreuzzügen teilnehme.«
Er blickte fragend von Kivrin zu Dunworthy. »Kommen Sie, das Netz kann jeden Augenblick aufgehen.«
Kivrin nickte. Sie gab dem Hengst einen Klaps auf die Flanke. Er ging ein paar Schritte und blieb dann stehen und blickte fragend zu ihnen zurück.
»Kommen Sie schon«, sagte Colin. Er arbeitete sich wieder in das Dickicht hinein.
Kivrin rührte sich nicht vom Fleck. Sie hatte die Hand an ihre Seite gelegt.
Dunworthy ging zu ihr. »Kann ich helfen?«
»Es wird schon gehen«, sagte sie und wandte sich ab, um die Weidenzweige auseinanderzubiegen.
Unter den Bäumen flossen die tiefen Schatten ineinander. Nur der schneebedeckte Waldboden verbreitete soviel Licht, daß man die einzelnen Stämme unterscheiden konnte. Colin schleppte den Sattel in die Mitte der Lichtung. »Für den Fall, daß wir die Öffnung gerade verpaßt haben und zwei Stunden warten müssen«, sagte er. Dunworthy ließ sich dankbar darauf nieder.
»Wie wissen wir, wo wir zu stehen haben, wenn das Netz geöffnet wird?« fragte Colin.
»Wir werden die Kondensation sehen können«, antwortete Kivrin. Sie ging zu einer großen Eiche und bückte sich, um den Schnee von ihren breiten Wurzelansätzen zu fegen.
»Sie meinen, wir können die Kondensation auch im Dunkeln sehen?«
Sie setzte sich vorsichtig unter den Baum, biß sich auf die Unterlippe, als sie sich auf der Wurzel niederließ.
Colin ging zwischen den beiden in die Hocke. »Wenn ich Zündhölzer mitgebracht hätte, könnte ich jetzt ein Feuer machen.«
»Es ist schon gut«, sagte Dunworthy.
Der Junge schaltete die Taschenlampe ein und wieder aus. »Ich glaube, es ist besser, die Batterie zu schonen, falls etwas schiefgeht.«
Vom Weidendickicht drangen Geräusche herüber. Colin sprang auf. »Ich glaube, es geht los!«
»Es ist der Hengst«, sagte Dunworthy. »Er sucht nach Futter.«
»Ach so.« Colin hockte sich nieder. »Sie glauben nicht, daß das Netz schon offen war und wir es bloß nicht gesehen haben, weil es dunkel ist?«
»Nein.«
»Vielleicht hatte Badri einen weiteren Rückfall und konnte das Netz nicht offenhalten.« Es klang mehr aufgeregt als ängstlich.
Sie warteten. Der Himmel war nun auch im Westen völlig dunkel, und zwischen den abziehenden Wolken kamen immer mehr Sterne hervor und blinzelten durch die Äste der Eiche. Colin kauerte neben Dunworthy und redete über die Kreuzzüge.
»Sie wissen alles über das Mittelalter«, sagte er zu Kivrin, »also dachte ich, Sie könnten mir vielleicht helfen, mich vorzubereiten, mir Unterricht zu geben, wissen Sie.«
»Du bist nicht alt genug«, sagte sie. »Es ist sehr gefährlich.«
»Ich weiß«, sagte Colin. »Aber ich möchte wirklich gehen. Sie müssen mir helfen. Bitte.«
»Es wird ganz anders sein, als du erwartest«, sagte sie. »Und zuerst solltest du deine Schulzeit hinter dich bringen und ein Studium anfangen. Dann wirst du auch für solche Unternehmungen alt genug sein.«
»Ist das Essen nicht nekrotisch? In dem Buch, das Mr. Dunworthy mir schenkte, habe ich gelesen, daß die Menschen verdorbenes Fleisch und Schwäne und alles mögliche aßen.«
Kivrin blickte eine lange Minute auf ihre Hände. »Das meiste war schrecklich«, sagte sie leise, »aber es gab auch ein paar wundervolle Dinge.«
Wundervolle Dinge. Dunworthy dachte an Mary, wie sie vom Tal der Könige gesprochen hatte. »Ich werde es nie vergessen«, hatte sie gesagt. Wundervolle Dinge.
»Wie ist es mit Rosenkohl?« fragte Colin. »Hat man im Mittelalter Rosenkohl gegessen?«
Kivrin lächelte beinahe. »Ich glaube, der war damals noch nicht gezüchtet.«
»Gut!« Er sprang auf. »Haben Sie das gehört? Ich glaube, es geht los. Es klingt wie eine Glocke!«
Kivrin hob den Kopf und lauschte. »Als ich durchkam, läutete eine Glocke«, sagte sie.
»Kommen Sie«, sagte Colin und zog Dunworthy auf die Beine. »Können Sie es hören?«
Es war eine Glocke, schwach und weit entfernt.
»Es kommt von hier«, sagte Colin und sprang zum Rand der Lichtung. »Kommen Sie!«
Mit einer Hand gegen die rauhe Borke der Eiche gestützt, die andere an ihrer Seite, stand Kivrin vorsichtig auf.
Dunworthy streckte die Hand nach ihr aus, aber sie nahm sie nicht an. »Es geht schon«, sagte sie leise.
»Ich weiß«, sagte er und ließ die Hand sinken.
Sie blieb noch eine Weile in Gedanken versunken gegen den Eichenstamm gestützt stehen, dann ließ sie ihn los und richtete sich auf.
»Ich habe alles aufgezeichnet«, sagte sie. »Alles, was geschah.«
Wie John Clyn, dachte er. Sein Blick streifte ihr verfilztes, abgeschnittenes Haar, das schmutzige Gesicht. Eine wahre Historikerin, die in der leeren Kirche, umgeben von Gräbern, ihre Aufzeichnungen machte. Und damit nicht Geschehnisse, die erinnert sein sollten, mit der Zeit untergehen und aus dem Gedenken derer verschwinden, die nach uns kommen sollen, habe ich, der so viele Übel gesehen hat, und die ganze Welt gleichsam in den Klauen des Bösen, all die Dinge, deren Zeuge ich geworden bin, schriftlich niedergelegt.
Kivrin drehte ihre Handflächen nach oben und sah in der Dunkelheit auf ihre Handgelenke. »Pater Roche und Agnes und Rosemund und alle anderen«, sagte sie. »Ich habe alles aufgezeichnet.«
Sie zog mit dem Finger eine Linie über ihr Handgelenk. » Io suiicien lui dami amo«, murmelte sie. »Du bist hier anstelle der Freunde, die ich liebe.«
»Kivrin«, sagte Dunworthy.
»Kommen Sie schon!« sagte Colin. »Es geht los. Hören Sie die Glocke?«
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