Dunworthy nahm ihm die Zügel aus der Hand und verlangsamte das Pferd zu einem widerwilligen Schritt, als sie aus dem Wald kamen, vorbei an einer schneebedeckten Wiese, und das Dorf vor sich liegen sahen, halb verdeckt von einer Gruppe hoher Eschen und vom Schneefall verschleiert, so daß sie nur graue Umrisse ausmachen konnten: Herrenhaus, Hütten, Kirche, Glockenturm. Es war nicht das richtige Dorf — Skendgate hatte, so Montoya, keinen Glockenturm -, aber wenn Colin es bemerkt hatte, sagte er nichts. Langsam ritten sie hinunter zum Dorf. Dunworthy hielt die Zügel und hielt angestrengt Ausschau.
Er konnte keine Toten sehen, aber es gab im Dorf auch keine lebenden Bewohner, und kein Rauch stieg von den Hütten auf. Der Glockenturm stand stumm und verlassen, und ringsumher waren keine Fußabdrücke zu sehen.
Auf halbem Weg sagte Colin plötzlich: »Da war eben etwas!« Auch Dunworthy hatte es durch die Tropfen an den Brillengläsern gesehen. Eine Bewegung, die von einem Vogel oder einem von der Schneelast befreiten, emporschnellenden Zweig herrühren mochte. »Da drüben«, sagte Colin und zeigte zu der zweiten Hütte. Zwischen den schneebedeckten Sträuchern und Strohdächern wanderte eine Kuh heraus auf die freie Fläche des Dorfangers, das Euter zum Platzen gefüllt, und Dunworthy fand seine Befürchtung bestätigt, daß die Pest auch hier gewesen war.
»Eine Kuh!« sagte Colin enttäuscht. Sie blickte zu ihnen her und kam ihnen muhend entgegengeschaukelt.
»Wo sind die Leute?« sagte Colin. »Jemand muß die Glocke geläutet haben.«
Sie sind alle tot, dachte Dunworthy. Er blickte zum Friedhof und sah die frischen Gräber mit den Erdhügeln darüber, die der Schnee noch nicht vollständig zugedeckt hatte. Hoffentlich sind sie alle auf diesem Friedhof begraben, dachte er, und dann sah er den ersten Toten. Es war ein Junge, der sitzend an einem Grabstein lehnte, als ob er ausruhte.
»He, da ist jemand«, sagte Colin, zog hart an den Zügeln und zeigte zu der Gestalt. »Hallo!«
Er drehte sich halb herum, um Dunworthy anzusehen. »Werden sie verstehen, was wir sagen? Was meinen Sie?«
»Er ist tot«, sagte Dunworthy.
Aber der Junge stand auf, zog sich mühsam hoch, eine Hand auf den Grabstein gestützt, und blickte umher, als suchte er eine Waffe.
»Wir tun dir nichts«, rief Dunworthy und überlegte nachträglich, wie es auf mittelenglisch heißen würde.
Er ließ sich vom Sattel gleiten, eine Hand am Sattelbogen, um sich des plötzlichen Schwindelgefühls zu erwehren. Dann richtete er sich auf, wandte sich um und streckte die Hand mit erhobener Handfläche dem Jungen entgegen.
Dessen Gesicht war schmutzig, streifig und verschmiert mit Erde und Blut, und sein ledernes Wams und die Beinkleider waren mit klebrigen Krusten von geronnenem Blut und Schmutz überzogen. Er bückte sich und hielt sich die Seite, als ob die Bewegung ihm Schmerzen bereitete, hob einen Stecken auf, der im Schnee gelegen hatte, und kam ein paar Schritte auf sie zu. »Belibet wec vone hiewert. Die blawe siecheit hat unsich anloufen.«
»Kivrin«, sagte Dunworthy und kam auf sie zu.
»Kommen Sie nicht näher«, sagte sie auf englisch und hielt den Stecken wie einen Speer vor sich. Das Ende war unregelmäßig abgebrochen.
»Ich bin es, Kivrin, Mr. Dunworthy«, sagte er und ging weiter auf sie zu.
»Nein!« sagte sie, zurückweichend, hob einen zerbrochenen Spaten auf und stieß mit dem Stiel in seine Richtung. »Sie verstehen nicht. Es ist die Pest.«
»Das ist schon gut, Kivrin. Wir sind geimpft.«
»Geimpft«, sagte sie, als wüßte sie nicht, was das Wort bedeutete. »Es war der Sekretär des Bischofs. Er hatte sie, als sie kamen.«
Colin kam gelaufen, und sie riß den Schaufelstiel wieder hoch.
»Es ist schon gut«, wiederholte Dunworthy. »Das ist Colin. Er ist auch geimpft worden. Wir sind gekommen, Sie heimzuholen.«
Eine lange Minute sah sie ihn ruhig an, während um sie her der Schnee fiel. »Mich heimzuholen«, sagte sie ohne Ausdruck in der Stimme und blickte auf das Grab zu ihren Füßen. Es war kürzer und schmaler als die anderen, ein Kindergrab.
Nach einer Weile blickte sie zu Dunworthy auf, und auch in ihrem Gesicht war kein Ausdruck. Ich bin zu spät gekommen, dachte er verzweifelnd, als er sie in ihrem blutigen Wams dastehen sah, umgeben von Gräbern. Sie haben sie schon gekreuzigt. »Kivrin«, sagte er.
Sie ließ den Schaufelstiel fallen. »Sie müssen mir helfen«, sagte sie und machte kehrt und ging von ihnen fort auf die Kirche zu.
»Ist sie es wirklich?« flüsterte Colin.
»Ja«, sagte er.
»Was ist los mit ihr?«
Ich bin zu spät gekommen, dachte er und legte die Hand auf Colins Schulter, sich zu stützen. Sie wird mir nie vergeben.
»Fehlt Ihnen was?« fragte Colin. »Fühlen Sie sich wieder krank?«
»Nein«, sagte er, wartete aber einen Moment, bevor er seine Hand wegnahm.
Kivrin war bei der Kirchentür stehengeblieben und hielt sich wieder die Seite. Ein Frösteln überlief ihn. Sie hat es, dachte er. Sie hat die Pest. »Sind Sie krank?« fragte er.
»Nein.« Sie nahm die Hand von ihrer Seite und blickte darauf, als erwarte sie, daß sie mit Blut bedeckt sei. »Er trat mich.« Sie versuchte die Kirchentür aufzustoßen, verzog das Gesicht und ließ es Colin tun. »Ich glaube, er brach mir ein paar Rippen.«
Colin schob die schwere eichene Tür auf, und sie traten ein. Dunworthy schloß einen Moment lang die Augen, um ihnen die Anpassung an die Dunkelheit zu erleichtern. Durch die schmalen Fenster drang kaum Licht ins Innere, obwohl er die wesentlichen Merkmale des Raumes erkennen konnte. Die massigen Säulen mit den romanischen Würfel- und Kelchkapitellen und den Mauerbogen unter den Hochwänden des Mittelschiffes. Und vor der Chorschranke ein wuchtiger rechteckiger Umriß wie ein Klotz, aber dahinter und zu beiden Seiten war es völlig dunkel. Colin wühlte in seinen weiten Taschen.
Weit vorn im Chor klomm die matte Flamme des ewigen Lichts und erhellte nichts als sich selbst. Dunworthy ging langsam durch das Kirchenschiff nach vorn.
»Augenblick«, sagte Colin und schaltete eine Taschenlampe ein. Sie blendete Dunworthy und machte alles außerhalb ihres Lichtkegels so schwarz wie es gewesen war, als sie hereingekommen waren. Colin leuchtete in der Kirche herum, über die bemalten Wände, die schweren Säulen, den unebenen Steinplattenboden. Das Licht fiel auf den Klotz, den Dunworthy nicht hatte deuten können. Es war ein Steinsarkophag.
»Sie ist da oben«, sagte Dunworthy und zeigte zum Altar, und Colin zielte den Lichtkegel in die angegebene Richtung.
Kivrin kniete bei jemandem, der vor der Chorschranke am Boden lag. Es war ein Mann, sah Dunworthy im Näherkommen. Beine und Unterkörper waren mit einer purpurnen Decke zugedeckt, seine großen Hände auf der Brust gefaltet. Kivrin bemühte sich, mit einem Stück Holzkohle eine Kerze anzuzünden, diese aber war zu einem mißgestalteten, halb zerflossenen Wachsklumpen niedergebrannt und ging immer wieder aus. Sie schien dankbar, als Colin mit seiner Taschenlampe herankam. Er richtete den Lichtkegel voll auf sie und den Liegenden.
»Sie müssen mir mit Roche helfen«, sagte sie, ins Licht blinzelnd. Sie beugte sich über den Mann und ergriff seine Hand.
Sie denkt, er sei noch am Leben, dachte Dunworthy, aber sie sagte in dieser tonlosen, selbstverständlichen Stimme: »Er starb heute morgen.«
Die gefalteten Hände waren beinahe so purpurn wie die Decke, aber das Gesicht des Mannes war blaß und völlig friedlich.
»Was war er, ein Ritter?« fragte Colin verwundert.
»Nein«, sagte Kivrin. »Ein Heiliger.«
Sie hatte ihre Hand auf die seinen gelegt. Dunworthy sah, daß sie schwielig und blutig war, die Fingernägel schwarz, die Haut rissig und schrundig. »Sie müssen mir helfen«, sagte sie.
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