Sie blickte auf, ohne zu nicken.
»Meinen Sie nicht, daß wir jetzt gehen sollten?« sagte Colin. »Es wird dunkel.«
»Ja«, sagte Dunworthy. »Ich glaube auch, wir sollten…« Das Schwindelgefühl überwältigte ihn ganz unerwartet, und er schwankte und fiel beinahe über den Toten.
Kivrin streckte die Hand aus, und Colin sprang hinzu, daß das Licht seiner Taschenlampe wie wild über die Balkendecke zuckte, als er Dunworthys Arm ergriff.
Dunworthy ging taumelnd auf ein Knie nieder und mußte sich mit der flachen Hand am Boden abstützen. Die andere hatte er haltsuchend nach Kivrin ausgestreckt, aber sie war auf die Beine gekommen und zurückgewichen.
»Sie sind krank!« Es war eine Anklage, eine Verurteilung. »Sie haben die Pest bekommen, nicht?« sagte sie, und zum ersten Mal spiegelte sich eine Gefühlsregung in ihrer Stimme. »Ist es nicht so?«
»Nein«, sagte Dunworthy, »es ist…«
»Er hat einen Rückfall«, sagte Colin. Er steckte die Taschenlampe in die Armbeuge der Statue, um Dunworthy aus einer knienden Haltung aufzuhelfen. »Er hat meine Plakate nicht beachtet.«
»Es ist ein Virus«, sagte Dunworthy. Er setzte sich schwerfällig nieder und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Statue. »Es ist nicht die Pest. Wir sind beide mit Tetracyclin und Gammaglobulin geimpft. Wir können die Pest nicht bekommen.« Er ließ den Kopf gegen die Statue zurücksinken. »Es ist ein Grippevirus. Es wird wieder vorbeigehen. Ich muß nur einen Augenblick ausruhen.«
»Ich sagte ihm, daß er nicht die Glocke läuten sollte«, sagte Colin. Er entleerte den Sack auf den Steinboden und legte ihn Dunworthy um die Schultern.
»Sind noch Aspirintabletten übrig?«
»Sie sollen nur alle drei Stunden welche nehmen«, sagte Colin, »und Sie sollen sie nicht ohne Wasser nehmen.«
»Dann bring mir Wasser.«
Colin blickte hilfesuchend zu Kivrin, aber sie stand noch auf der anderen Seite des Toten und beobachtete Dunworthy mit reservierter Aufmerksamkeit.
»Jetzt«, sagte Dunworthy, und Colin rannte hinaus, daß seine Stiefeltritte in der leeren Kirche widerhallten. Dunworthy blickte hinüber zu Kivrin, und sie wich einen Schritt zurück.
»Es ist nicht die Pest«, wiederholte er. »Es ist ein Virus. Wir befürchteten, daß auch Sie ihm ausgesetzt waren, bevor Sie durchkamen, und daran erkrankten. War es so?«
»Ja«, sagte sie und kniete neben Roche nieder. »Er rettete mir das Leben.«
Sie glättete die purpurne Decke, und Dunworthy sah jetzt erst, daß es ein Samtumhang war, der in der Mitte ein großes aufgenähtes seidenes Kreuz trug.
»Er sagte mir, ich solle mich nicht fürchten«, sagte sie. Sie zog ihm den Umhang über die Brust mit den gefalteten Händen, aber nun wurden seine Füße, die in derben, schlecht zum Samtumhang passenden Sandalen steckten, sichtbar. Dunworthy nahm sich den Sack von den Schultern und breitete ihn dem Toten über die Füße, dann stand er vorsichtig auf, eine Hand auf die Statue gestützt, um nicht noch einmal das Gleichgewicht zu verlieren.
Kivrin tätschelte Roches Hände durch den Samtstoff. »Er wollte mich nicht verletzen«, sagte sie.
Colin kam mit einem hölzernen Eimer zurück, der halb voll Wasser war. Dem Aussehen nach mußte er es aus einer Pfütze geschöpft haben. Er schnaufte angestrengt. »Die Kuh griff mich an!« sagte er, als er den Eimer abstellte. Er schüttelte Dunworthy die restlichen Aspirintabletten in die Hand. Es waren fünf.
Dunworthy nahm zwei davon, schöpfte mit einer Hand ein wenig Wasser und schluckte. Die übrigen Tabletten gab er Kivrin. Sie nahm sie mit ernster Miene an, ohne sich von den Knien zu erheben.
»Ich konnte keine Pferde finden«, sagte Colin. Er schob Kivrin den Eimer hin. »Nur ein Maultier.«
»Esel«, sagte Kivrin. »Maisry stahl Agnes’ Pony.« Sie schluckte die Tabletten und ergriff wieder Roches Hand. »Für alle läutete er die Glocke, damit ihre Seelen sicher zum Himmel auffahren konnten.«
»Meinen Sie nicht, daß wir gehen sollten?« flüsterte Colin. »Draußen ist es beinahe dunkel.«
»Sogar für Rosemund«, sagte Kivrin, als ob sie nicht gehört hätte. »Er war schon krank. Ich sagte ihm, wir hätten keine Zeit mehr, müßten nach Schottland aufbrechen.«
»Wir müssen jetzt gehen«, sagte Dunworthy, »bevor es ganz dunkel ist.«
Sie rührte sich nicht von der Stelle, ließ Roches Hand nicht los. »Er hielt mir die Hand, als ich im Sterben lag.«
»Kivrin«, sagte er freundlich.
Sie legte ihre Hand an die Wange des Toten und richtete sich auf. Dunworthy bot ihr die Hand, aber sie stand ohne seine Hilfe auf, eine Hand gegen die Seite gedrückt, und ging langsam durch das Kirchenschiff hinaus.
An der Tür wandte sie sich um und blickte zurück in die Dunkelheit. »Als er im Sterben lag, sagte er mir, wo der Absetzort war, damit ich zum Himmel zurückkehren kann. Er sagte mir, ich solle ihn verlassen und gehen, so daß ich bereits dort sein würde, wenn er käme«, sagte sie, und ging hinaus in den Schnee.
Der Schnee fiel lautlos und friedlich auf den Rappen und den Esel, die geduldig bei der Friedhofspforte standen. Dunworthy half Kivrin auf den Hengst, und sie schreckte vor seiner Berührung nicht zurück, wie er es befürchtet hatte, doch sobald sie im Sattel saß, entzog sie sich seinem Griff und nahm die Zügel. Er sah sie im Sattel zusammensinken und sich die Seite halten, sagte aber nichts.
Inzwischen zitterte er vor Kälte und mußte die Zähne zusammenbeißen, damit sie nicht hörbar aufeinanderschlugen. Erst beim dritten Versuch gelang es ihm, auf den Esel zu steigen, und er fürchtete jeden Augenblick herunterzurutschen.
»Ich glaube, ich führe Ihr Maultier«, sagte Colin mit einem mißbilligenden Blick.
»Wir haben nicht genug Zeit«, sagte Dunworthy. »Es ist schon fast dunkel. Reite hinter Kivrin.«
Colin führte den Hengst an die Friedhofsmauer, stieg hinauf und krabbelte von dort hinter Kivrin in den Sattel.
»Hast du das Ortungsgerät?« fragte Dunworthy. Er versuchte behutsam, den Esel mit den Fersen anzutreiben, ohne hinunterzufallen.
»Ich weiß den Weg«, sagte Kivrin.
Colin hielt das Ortungsgerät in die Höhe. »Da ist es. Und die Taschenlampe.« Er schaltete sie ein und leuchtete damit auf dem Friedhof umher, als suchte er etwas, das sie zurückgelassen haben könnten. Zum ersten Mal schien er die Gräber zu bemerken.
»Ist das hier, wo Sie alle begraben haben?« sagte er, den Lichtkegel auf den frisch verschneiten Grabhügeln.
»Ja«, sagte Kivrin.
»Sind sie schon lange tot?«
Sie wendete den Hengst und setzte ihn in Bewegung. »Nein.«
Die Kuh folgte ihnen ein Stück Weges. Ihr volles Euter schwang hin und her, und schließlich blieb sie auf dem Weg stehen und begann jämmerlich zu muhen. Dunworthy sah sich nach ihr um, bis sie unschlüssig kehrtmachte und langsam den Weg hinunter zum Dorf wanderte. Der Schnee hatte die Gräber vollständig zugedeckt und die Kirche war nur noch ein verschwommener steingrauer, Umriß in der schnee-erfüllten Dämmerung, der Glockenturm kaum noch zu erkennen.
Kivrin blickte nicht zurück. Sie saß jetzt sehr gerade im Sattel und hielt die Zügel mit beiden Händen. Colin wagte nicht, die Arme um ihre Mitte zu legen und sich an ihr festzuhalten, sondern umklammerte mit den Fingern den Sattelbogen hinter sich. Als sie in den Wald kamen, schien der Schneefall nachzulassen, aber allenthalben löste sich lockerer Neuschnee von Ästen und hochschnellenden Zweigen und fiel in lautlosen weißen Kaskaden herab.
Dunworthy folgte dem Pferd und mußte es dem Esel überlassen, mit der gleichmäßigen Gangart des Hengstes Schritt zu halten. Er selbst war vollauf damit beschäftigt, dem Fieber Widerstand zu leisten, das sich mit Schwindelgefühl und Desorientierung zurückmeldete. Das Aspirin wirkte nicht — er hatte es mit zu wenig Wasser genommen -, und er spürte, wie das Fieber ihn allmählich überwältigte und anfing, den Wald und den knochigen Eselsrücken und Colins Stimme aus seinem Bewußtsein zu drängen.
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