»Womit helfen?« fragte Colin.
Dunworthy begriff, daß sie ihre Hilfe bei der Beerdigung des Toten wünschte, aber dazu sah er sich nicht imstande. Der Mann, den sie Roche genannt hatte, war vielleicht nicht mehr als mittelgroß, obwohl die Größe eines Liegenden schlecht einzuschätzen war, aber ungemein breit und kräftig gebaut. Selbst wenn sie ein Grab ausschaufeln konnten, würden sie ihn zu dritt nicht tragen können, und Kivrin würde niemals zulassen, daß sie ihm einen Strick um den Hals knoteten und ihn auf den Friedhof hinausschleiften.
»Womit helfen?« wiederholte Colin. »Wir haben nicht viel Zeit.«
Sie hatten überhaupt keine Zeit. Es war inzwischen Spätnachmittag, und nach Dunkelwerden würden sie niemals den Weg durch den Wald finden. Außerdem war schwer zu sagen, wie lang Badri die alle zwei Stunden wiederholte Öffnung des Netzes aufrechterhalten konnte. Zwar hatte er von vierundzwanzig Stunden gesprochen, dabei aber nicht kräftig genug ausgesehen, um ihrer zwei zu überdauern. Und annähernd acht Stunden waren bereits vergangen. Hinzu kam, daß der Boden gefroren war, daß Kivrin sich Rippen gebrochen hatte, und daß die Wirkung der Aspirintabletten nachließ. In der Kirche war es so eisig, daß er wieder vor Kälte zu zittern begann.
Wir können ihn nicht begraben, dachte er, den Blick auf der neben dem Toten knienden Kivrin. Aber wie konnte er ihr das sagen, nachdem er für alles andere zu spät gekommen war?
»Kivrin…«
Sie tätschelte sanft die kalte Hand des Toten. »Wir werden ihn nicht begraben können«, sagte sie in diesem ruhigen, ausdruckslosen Ton. »Wir mußten Rosemund in sein Grab legen, nach dem Verwalter…«
Sie blickte zu Dunworthy auf. »Heute früh versuchte ich ein neues Grab zu schaufeln, aber der Boden ist zu hart. Die Schaufel brach ab. Ich sprach die Totenmesse für ihn. Und ich versuchte die Glocke zu läuten.«
»Wir hörten sie«, sagte Colin. »So fanden wir Sie.«
»Es hätten neun Schläge sein sollen, aber ich mußte aufhören.« Sie legte die Hand in erinnertem Schmerz an ihre Seite. »Sie müssen mir helfen, das Totengeläute zu vollenden.«
»Warum?« fragte Colin. »Ich glaube nicht, daß irgendwo noch jemand am Leben ist, sie zu hören.«
»Das hat nichts zu sagen«, erwiderte Kivrin. Ihr Blick richtete sich auf Dunworthy.
»Wir haben keine Zeit«, sagte Colin. »Bald wird es dunkel, und der Absetzort ist…«
»Ich werde läuten«, sagte Dunworthy. »Sie bleiben hier«, ergänzte er, als sie Anstalten machte, aufzustehen. »Ich werde die Glocke läuten.« Er wandte sich um und ging durch das Kirchenschiff zurück.
»Es wird dunkel«, sagte Colin, der ihm nachtrabte. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe tanzte wild über die Säulen und die Steinplatten des Bodens, »und Sie sagten, Sie wüßten nicht, wie lange Badri das Netz offenhalten kann. Warten Sie doch einen Augenblick!«
Dunworthy stieß die Tür auf, die Augen gegen die erwartete Helligkeit des Schnees zusammengekniffen, aber während sie in der Kirche gewesen waren, hatte die Dämmerung eingesetzt, und aus dem dunkelnden Himmel rieselte der Schnee. Er ging schnell über den Friedhof zum Glockenturm. Die Kuh, die Colin bei ihrer Ankunft gesehen hatte, war durch die Friedhofspforte gekommen und wanderte quer über die Gräber auf sie zu. Ihre Hufe versanken bis über die Fesseln im Schnee.
»Was nützt es, die Glocke zu läuten, wenn niemand da ist, sie zu hören?« sagte Colin. Er blieb stehen, um seine Taschenlampe auszuschalten, dann rannte er, ihn wieder einzuholen.
Dunworthy betrat den Glockenturm. Er war so dunkel und kalt wie das Kircheninnere, und roch nach Ratten. Die Kuh steckte ihren Kopf herein, und Colin zwängte sich an ihr vorbei und stand an der gekrümmten Wand.
»Sie sind derjenige, der ständig sagt, daß wir zum Absetzort zurück müssen, daß das Netz geschlossen wird und uns hier zurückläßt«, sagte er. »Sie sind es, der sagte, wir hätten nicht einmal mehr Zeit, Kivrin zu suchen.«
Dunworthy stand eine kleine Weile in der Mitte des dunklen, runden Raumes, ließ seinen Augen Zeit zur Anpassung und versuchte zu Atem zu kommen. Er war zu schnell gegangen, und die Beengung in seiner Brust machte sich wieder unangenehm bemerkbar. Er blickte zum Seil auf, das über ihren Köpfen in der Dunkelheit hing. Eine Elle über dem zerfransten Ende war ein fettig aussehender Knoten.
»Darf ich läuten?« fragte Colin.
»Du bist zu klein.«
»Bin ich nicht«, sagte er und sprang hoch, das Seil zu ergreifen. Er erwischte das Ende unter dem Knoten und hing mehrere Atemzüge daran, bevor er sich fallen ließ, aber das Seil gab kaum nach, und die Glocke gab nur einen schwachen, verstimmten Ton von sich, als hätte jemand mit einem Stein an ihre Seite geschlagen. »Ist die schwer«, sagte er.
Dunworthy reckte die Arme und ergriff das rauhe Hanfseil. Es war kalt und faserig. Er zog kräftig abwärts, keineswegs überzeugt, daß er Besseres als Colin zuwege bringen würde, und das Seil schnitt in seine Hände. Bong.
»Ist das laut!« sagte Colin, klappte die Hände über die Ohren und blickte begeistert in den dunklen Turm hinauf.
»Eins«, sagte Dunworthy. Eins und auf. Er erinnerte sich der Amerikanerinnen, beugte die Knie und zog am Seil abwärts. Zwei. Und auf. Und drei.
Er wunderte sich, daß es Kivrin gelungen war, mit ihren gebrochenen oder geprellten Rippen überhaupt einen Glockenton zu erzeugen. Die Glocke war viel schwerer und bei weitem lauter als er es sich vorgestellt hatte, und die Töne schienen in seinem Kopf und seiner beengten Brust zu vibrieren. Bong.
Er dachte an Mrs. Piantini, wie sie ihre sulzigen Knie beugte und dabei zählte. Fünf. Er hatte nicht zu würdigen gewußt, welch schwierige Arbeit es war. Jeder Zug am Glockenseil schien ihm den Atem aus den Lungen zu reißen. Sechs.
Er hätte gern aufgehört und eine Ruhepause eingelegt, wollte aber Kivrin, die in der Kirche kniete und lauschte, nicht denken lassen, daß er aufgegeben habe oder zu nachlässig sei, um die Zahl der Glockenschläge vollzumachen. Er festigte seinen Griff über dem Knoten und als er mit allen Kräften zog, entrang sich seiner Brust ein lautes Ächzen.
»Fehlt Ihnen was, Mr. Dunworthy?«
»Nein«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Es schien ihm die Lungen aufzureißen. Sieben.
Die Glocke zog das Seil hinauf, und er ließ sich mit hochziehen. Mrs. Taylor kam ihm in den Sinn, wie sie, schon krank, die Schläge gezählt hatte, die zur Vollendung des Glockenspiels noch nötig waren, entschlossen, dem Fieber und den hämmernden Kopfschmerzen standzuhalten.
»Ich kann weitermachen«, sagte Colin, und Dunworthy konnte ihn kaum hören. »Ich kann Kivrin holen, und zusammen schaffen wir die beiden letzten Schläge. Wir ziehen zusammen am Seil.«
Dunworthy schüttelte den Kopf. Er zog mit aller Macht am Seil. Bong. Acht. »Jeder muß bei seiner Glocke bleiben«, sagte er atemlos. Er durfte das Seil nicht loslassen. Mrs. Taylor war ohnmächtig geworden, und die Glocke hatte das Seil hochgerissen, daß es wie eine Peitsche geschlagen hatte. Es hatte sich Finch um den Hals gewickelt und ihn beinahe erdrosselt. Er mußte festhalten, trotz allem.
Er ging in die Knie, stieß keuchend den angehaltenen Atem aus und ließ das Seil hochgehen. »Neun«, sagte er.
Colin beobachte ihn, eine steile Falte zwischen den Brauen. »Sie haben einen Rückfall, nicht?« sagte er argwöhnisch.
»Nein«, sagte Dunworthy und ließ das Seil los.
Die Kuh hatte ihren Kopf noch immer in der Tür. Er schob sie beiseite und ging zurück zur Kirche und hinein.
Kivrin kniete unverändert neben Roche, seine steife Hand in der ihrigen.
Er blieb vor ihr stehen. »Ich habe die Glocke geläutet.«
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