Im Süden und Westen ist Wald — Wychwood? -, ausschließlich Laubwald, soweit ich es beurteilen kann. Im Osten ist die Themse zu sehen. Ich kann beinahe London ausmachen, obwohl ich weiß, daß es unmöglich ist. Um 1320 muß es mehr als fünfzig Meilen entfernt gewesen sein, nicht wahr, statt der zwanzig Meilen in unserer Zeit. Ich glaube trotzdem, daß ich es sehen kann. Die Stadtmauern von Oxford und der Carfax-Turm sind deutlich zu erkennen.
Eben habe ich herausgefunden, wo das Dorf ist. Es liegt an diesem Nebenweg. Ich werde zum Fuhrwerk gehen und es auf die Straße herausziehen, und dann werde ich ins Dorf wanken, bevor es dunkel wird, und vor jemandes Haustür zusammenbrechen. Es geht mir gut, Mr. Dunworthy. Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Ich bin seit mehr als einer Stunde hier, und soweit ist nichts Schlimmes geschehen.
Es ist schön hier. Ich habe nicht das Gefühl, siebenhundert Jahre entfernt von Ihnen zu sein. Oxford ist dort drüben, zu Fuß erreichbar, und ich bringe die Vorstellung nicht aus dem Kopf, daß ich Sie alle im Laboratorium von Brasenose antreffen würde, wo Sie auf die Fixierung warten, wenn ich diesen Hügel hinunter und durch die Ebene in die Stadt gehen würde: Badri stirnrunzelnd vor dem Bildschirm, Mrs. Montoya voll Ungeduld, zu ihrer Ausgrabung zurückzukehren, und Sie, Mr. Dunworthy, besorgt gluckend wie eine Henne. Ich fühle mich überhaupt nicht von Ihnen getrennt, oder auch nur sehr weit entfernt.
Badris Hand sank von seiner Stirn, bevor er vornüber fiel, und sein Unterarm schlug auf die Konsole und verhinderte, daß er mit dem Gesicht darauf prallte. Dunworthy blickte erschrocken auf den Bildschirm, in Sorge, er könne dabei versehentlich Tasten gedrückt und die ganze Darstellung durcheinandergebracht haben. Badri rutschte vom Stuhl und blieb wie leblos am Boden liegen.
Latimer und Gilchrist machten ebensowenig wie Dunworthy einen Versuch, ihn aufzufangen. Latimer schien nicht einmal zu merken, daß etwas geschehen war. Mary sprang sofort hinzu, aber sie stand hinter den anderen und konnte Badri nur noch am Ärmel erwischen. Im nächsten Augenblick war sie neben ihm auf den Knien, streckte ihn auf dem Rücken aus und zog sich einen Kopfhörer über die Ohren.
Sie suchte in ihrer Tasche, brachte ein Aufnahmegerät zum Vorschein und drückte volle fünf Sekunden auf den Rufknopf. »Badri?« sagte sie mit erhobener Stimme, und jetzt erst merkte Dunworthy, wie totenstill es im Raum war. Gilchrist hatte sich nicht von der Stelle gerührt, seit Badri gefallen war. Er sah wütend aus. Auf dieses unvorhergesehene Problem war er offensichtlich genauso wenig gefaßt wie alle anderen.
Mary ließ den Knopf los und schüttelte behutsam Badris Schulter. Es gab keine Reaktion. Sie zog seinen Kopf zurück und beugte sich über sein Gesicht, das Ohr an seinem offenen Mund, und drehte den Kopf so, daß sie seine Brust sehen konnte. Er hatte nicht aufgehört zu atmen. Dunworthy konnte aus zwei Metern Distanz sehen, daß seine Brust sich hob und senkte, und auch Mary konnte es nicht entgehen. Sie hob den Kopf, drückte auf das Aufnahmegerät, legte zwei Finger an seine Halsschlagader und hob das Aufnahmegerät zum Mund.
»Wir sind in der historischen Fakultät von Brasenose«, sagte sie. »Fünf-zwei. Kollaps. Bewußtlosigkeit. Kein Hinweis auf Schlaganfall.« Sie nahm die Hand vom Aufnahmeknopf und zog Badris Augenlider hoch.
»Was ist los?« fragte Gilchrist. »Was ist geschehen?«
Sie blickte gereizt zu ihm auf. »Er ist ohnmächtig geworden«, sagte sie und wandte sich zu Dunworthy. »Geben Sie mir mein Handwerkszeug«, sagte sie zu Dunworthy. »In der Einkaufstasche.«
Sie hatte die Tasche umgestoßen, als sie das Aufnahmegerät herausgezogen hatte. Dunworthy fummelte zwischen den Schachteln und Päckchen, fand einen harten Plastikkasten, der die richtige Größe zu haben schien, und öffnete ihn. Er war voll von Knallbonbons in roter und grüner Alufolie. Er stopfte den Kasten wieder in die Tasche. »Machen Sie schon«, sagte Mary, während sie Badris Arbeitskittel aufknöpfte. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
»Ich kann nichts finden«, begann Dunworthy.
Sie nahm ihm die Tasche weg und schüttelte sie aus. Die Knallbonbons rollten über den Boden, die Schachtel mit dem Schal ging auf, und der Schal fiel heraus. Mary nahm ihre Handtasche aus dem Durcheinander, zog den Reißverschluß auf und nahm eine große flache Ledermappe heraus. Dieser entnahm sie einen Blutdruckmesser, den sie um Badris Arm schnallte; dann prüfte sie die Ablesungen. Die wellenförmige Wiedergabe sagte Dunworthy nichts, und Marys Reaktion war nicht zu entnehmen, was sie davon hielt. Badri hatte nicht aufgehört zu atmen, sein Herz hatte nicht aufgehört zu schlagen, und er blutete nicht. Vielleicht hatte er nur einen Schwächeanfall erlitten. Andererseits fiel man nicht einfach um, außer in Büchern oder im Fernsehen. Er mußte krank oder verletzt sein. Als er ins Wirtshaus gekommen war, hatte er einen sonderbar geistesabwesenden Eindruck gemacht, als ob er unter einem Schock stünde. Konnte es sein, daß er von einem Rad angefahren worden war, wie es Dunworthy beinahe passiert war, und nicht gleich bemerkt hatte, daß er verletzt war? Das würde sein geistesabwesendes Verhalten bei gleichzeitiger Unruhe erklären.
Aber nicht den Umstand, daß er ohne Mantel losgegangen war, daß er gesagt hatte, Dunworthy müsse kommen und es sei etwas nicht in Ordnung.
Dunworthy wandte sich um und blickte auf den Bildschirm der Konsole. Er zeigte noch immer die gleichen Zahlen und Zeichen. Ihre Bedeutung blieb Dunworthy verschlossen, aber es sah wie eine normale Fixierung aus, und Badri hatte gesagt, Kivrin sei gut durchgekommen. Aber etwas mußte passiert sein.
Mary klopfte Badris Arme, die Seiten seines Oberkörpers und die Beine mit flachen Händen ab. Badris Augenlider zuckten, blieben aber geschlossen.
»Wissen Sie, ob Badri gesundheitliche Probleme hatte?«
»Er ist Mr. Dunworthys Techniker«, sagte Gilchrist. »Von Balliol. Er war uns nur ausgeliehen«, fügte er hinzu, und es hörte sich an, als sei Dunworthy irgendwie für dieses Ereignis verantwortlich, habe womöglich den Kollaps des Technikers arrangiert, um das Projekt zu sabotieren.
»Mir ist von gesundheitlichen Problemen nichts bekannt«, sagte Dunworthy. »Er wird an den üblichen Vorsorgeuntersuchungen teilgenommen haben, nehme ich an.«
Mary machte ein unzufriedenes Gesicht. Sie legte ihr Stethoskop an und lauschte eine lange Minute seinen Herztönen, überprüfte die Blutdruckmessung, nahm wieder seinen Puls. »Und Sie wissen nichts von einer Krankheitsgeschichte? Epilepsie? Diabetes?«
Dunworthy verneinte.
»Hat er jemals Drogen oder illegale Endorphine genommen?«
Sie wartete seine Antwort nicht ab und drückte wieder auf den Knopf ihres Aufnahmegerätes. »Ahrens hier. Puls 110. Blutdruck 100 zu 60. Ich mache eine Blutuntersuchung.« Sie riß ein Päckchen auf, wischte den Arm mit Desinfektionslösung, suchte eine Kanüle heraus.
Drogen oder illegale Endorphine. Das würde freilich sein aufgeregtes Benehmen erklären, seine zusammenhanglose Sprache. Aber wenn er Drogen nahm, hätte es bei den regelmäßigen Untersuchungen auffallen müssen. Außerdem hätte er als Drogenabhänger nicht die komplizierten Berechnungen für das Netz machen können. Mary wischte noch einmal den Arm und schob die Kanüle unter die Haut. Badris Augenlider zuckten, öffneten sich.
»Badri«, sagte Mary. »Können Sie mich hören?« Sie griff in die Manteltasche und nahm eine hellrote Kapsel heraus. »Ich muß ihre Temperatur messen«, sagte sie und hielt ihm die Kapsel an die Lippen, aber er gab nicht zu erkennen, daß er sie verstanden hatte.
Sie steckte die Kapsel wieder ein und suchte in ihrer Ledertasche. »Sagen Sie mir, wenn die Ablesungen von dieser Kanüle kommen«, sagte sie zu Dunworthy, während sie alles aus der Tasche nahm und dann wieder hineintat. Sie legte sie weg und durchsuchte ihre Handtasche. »Ich dachte, ich hätte ein Thermometer zum Ankleben bei mir.«
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