Und es war ein Vorteil, trotz Mr. Dunworthys Vorstellung, daß eine Hälfte Englands sich auf eine bewußtlose Frau stürzen würde, um sie zu vergewaltigen, während die andere Hälfte in der Nähe mit dem Scheiterhaufen wartete, auf dem sie sie zu verbrennen beabsichtigte. War sie bei Bewußtsein, würden ihre Retter Fragen stellen. War sie aber ohne Besinnung, würden sie über sie und über andere Dinge diskutieren. Sie würden beraten, wohin sie sie bringen sollten, und spekulieren, wer sie sei und woher sie gekommen sein mochte, Spekulationen, in denen sehr viel mehr Informationen steckten als in der simplen Frage »Wer bist du?«
Aber nun spürte sie einen überwältigenden Drang zu tun, was Mr. Gilchrist vorgeschlagen hatte — aufzustehen und sich umzusehen. Der Boden war eiskalt, ihre Seite schmerzte, und in ihrem Kopf fing im Gleichklang mit der Glocke ein pulsierender Schmerz an zu pochen. Dr. Ahrens hatte ihr gesagt, daß das geschehen würde. Eine Reise so weit in die Vergangenheit würde die Symptome der Zeitverzögerung auftreten lassen — Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und eine allgemeine Störung des Tag-Nacht-Rhythmus. Sie fror jämmerlich. War auch das ein Symptom der Zeitverzögerung, oder war der Boden, auf dem sie lag, so gefroren, daß die Kälte innerhalb von Minuten ihren pelzgefütterten Umhang durchdringen konnte? Oder war die Verschiebung stärker, als der Techniker gedacht hatte, und es war wirklich mitten in der Nacht?
Sie überlegte, ob sie auf der Landstraße liege. Wenn es sich so verhielt, sollte sie nicht liegen bleiben. Eines der Fuhrwerke, die diese Wagengeleise ausgefahren hatten, könnte sie in der Dunkelheit überrollen.
Mitten in der Nacht läuten keine Glocken, sagte sie sich, und es drang zuviel Licht durch ihre geschlossenen Augenlider, als daß es finster sein könnte. Aber wenn die Kirchenglocke zur Vesper läutete, bedeutete es, daß es dunkel wurde, und sie tat gut daran, aufzustehen und sich umzusehen, bevor es Nacht wurde.
Wieder lauschte sie den Vögeln, dem Wind in den Zweigen, einem gleichmäßig scharrenden Geräusch. Die Kirchenglocke hörte auf zu läuten. Ihr Echo verklang leise in der Luft, und dann hörte sie ein kleines Geräusch, wie ein rasches Einatmen oder das Auftreten eines Fußes in feuchtem, zerfallendem Laub, ganz nahe.
Kivrin spannte sich unwillkürlich und hoffte dann, die Bewegung bliebe unter dem Umhang unsichtbar. Sie wartete, aber es gab weder Schritte noch Stimmen. Und keine Vögel. Jemand oder etwas stand über ihr, sie war dessen sicher. Sie konnte das Atmen hören, den Atem auf sich fühlen. Es stand lange Zeit da, ohne sich zu bewegen. Nach scheinbar endloser Zeit merkte Kivrin, daß sie den Atem anhielt, und ließ ihn langsam ausströmen. Sie lauschte, doch nun konnte sie über dem Pochen des eigenen Pulsschlags in den Schläfen nichts hören. Sie tat einen tiefen, seufzenden Atemzug und stöhnte.
Nichts. Was es auch war, es rührte sich nicht, machte kein Geräusch, und Mr. Dunworthy hatte recht gehabt: Bewußtlosigkeit vorzutäuschen, war nicht die Art, in ein Jahrhundert einzutreten, wo noch Wölfe durch die Wälder streiften. Und Bären. Plötzlich fingen die Vögel wieder an zu zwitschern, was bedeutete, daß kein Wolf da war, oder daß er sich verzogen hatte. Kivrin lauschte wieder, und öffnete die Augen.
Sie konnte nichts als ihren Ärmel sehen, der über ihrer Nase lag, aber das bloße Öffnen der Augen verstärkte ihre Kopfschmerzen. Sie schloß die Augen wieder, wimmerte leise und regte sich. Dabei bewegte sie den Arm so weit, daß sie, wenn sie die Augen wieder öffnete, etwas würde sehen können. Wieder stöhnte sie und öffnete ein wenig die Augen.
Niemand stand über ihr, und es war nicht mitten in der Nacht. Der Himmel über den dicht verzweigten Ästen der Bäume war von einem blassen Graublau. Sie setzte sich auf und blickte umher.
Ungefähr das erste, was Mr. Dunworthy ihr gesagt hatte, als sie ihm ihren Wunsch, ins Mittelalter zu gehen, anvertraut hatte, war: »Sie waren schmutzig und von Krankheiten geplagt, es war das Dreckloch der Geschichte, und je eher sie sich alle märchenhaften Vorstellungen über die Zeit aus dem Kopf schlagen, desto besser.«
Und er hatte recht. Natürlich hatte er recht. Aber hier war sie in einem märchenhaften Wald. Sie und das Fuhrwerk und der Rest waren in einem kleinen offenen Raum durchgekommen, der zu klein und schattig war, um eine Lichtung genannt zu werden. Hohe, dicke Bäume breiteten ihre mächtigen Äste darüber.
Sie lag unter einer Eiche. An den kahlen Zweigen hoch über ihr hingen noch ein paar braune, runzlige Blätter. Die Eiche war voller Vogelnester vom vergangenen Frühjahr, jetzt verlassen. Die Vögel im Umkreis waren wieder still, vielleicht hatte ihre Bewegung sie verscheucht. Das Unterholz bestand aus dichtem Gebüsch, einem undurchdringlichen Gewirr von Zweigen, welken Blättern, Brombeerranken, dürren Stauden, übersponnen von Waldreben mit ihren flaumigen weißen Samenköpfchen. Das harte Ding, das Kivrin in die Seite gedrückt hatte, war ein abgebrochener Eichenzweig. Aus dem fahlen Gras bei den knorrigen Wurzeln einer Eiche schauten die roten und weißen Schirme von Fliegenpilzen. Sie und alles andere in der kleinen Lichtung — die Baumstämme, das Fuhrwerk, Efeu und Waldreben — glitzerten von der frostigen Kondensation des Lichthofes.
Es war offensichtlich, daß niemand hier gewesen war, jemals hier gewesen war, und ebenso offensichtlich, daß dies nicht die Landstraße von Oxford nach Bath war, und daß kein Reisender in 1,6 Stunden des Weges kommen würde. Oder irgendwann. Die mittelalterlichen Landkarten, die sie verwendet hatten, um den Absetzort festzulegen, waren anscheinend so ungenau gewesen, wie Mr. Dunworthy gesagt hatte. Die Straße mußte weiter nördlich verlaufen als die Karten gezeigt hatten, und sie war südlich davon, im Wald von Wychwood.
»Vergewissern Sie sich sofort Ihres genauen räumlichen und zeitlichen Standortes«, hatte Dr. Gilchrist gesagt. Sie fragte sich, wie sie das tun sollte. Hier konnte sie nur die Vögel fragen, und diese waren zu hoch über ihr, um zu verraten, welchen Arten sie angehörten, und weil es sich nur um heimische Arten handeln konnte, würde ihre Gegenwart ohnehin nicht auf eine bestimmte Zeit oder einen bestimmten Ort hinweisen.
Sie setzte sich aufrecht hin, und hinter ihr stob mit wildem Geflatter ein Schwarm kleiner Vögel aus den Sträuchern. Sie hielt still, bis das Geräusch sich entfernt hatte, dann erhob sie sich auf die Knie. Das Geflatter fing wieder an, diesmal in den Baumwipfeln. Sie faltete die Hände, drückte die Handballen zusammen und schloß die Augen, damit der Reisende, der sie finden sollte, wenn er vorbeikäme, den Eindruck gewinnen würde, daß sie betete.
»Ich bin hier«, sagte sie, dann brach sie ab. Wenn sie meldete, daß sie mitten in einem Wald gelandet war, statt auf der Landstraße von Oxford nach Bath, würde es nur bestätigen, was Mr. Dunworthy dachte, nämlich, daß Mr. Gilchrist nicht gewußt habe, was er tat, und daß sie allein nicht zurechtkommen könne, und dann fiel ihr ein, daß es überhaupt nichts ausmachte, weil niemand ihren Bericht hören würde, bevor sie sicher zurückgekehrt wäre.
Wenn sie sicher zurückkehrte, was vielleicht nicht der Fall sein würde, wenn sie bei Dunkelwerden noch in diesem Wald wäre. Sie stand auf und blickte umher. Es war entweder Spätnachmittag oder früher Morgen, mehr war hier im Wald nicht zu erkennen, und selbst wenn sie in offenes Gelände käme und den Himmel überblicken könnte, blieb ungewiß, ob sie es am Sonnenstand würde ablesen können. Mr. Dunworthy hatte ihr erzählt, daß manche Leute während ihres gesamten Aufenthaltes in der Vergangenheit hoffnungslos desorientiert blieben. Er hatte ihr geraten, die Schatten zu beobachten, aber um das zu tun, mußte sie die Uhrzeit wissen, und außerdem hatte sie keine Zeit mit Überlegungen zu vergeuden, welche Richtung welche war. Sie mußte den Weg aus diesem Wald finden. Er lag fast ganz im Schatten.
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