»Die Wahrscheinlichkeit, daß sich zum Zeitpunkt des Absetzens jemand am Absetzort befindet, wurde mit 0,04 Prozent errechnet.«
»Oh, da ist ja schon Badri«, sagte Mary, stand auf und schob sich zwischen Dunworthy und Gilchrist. »Das ist aber schnell gegangen, Badri. Haben Sie die Fixierung bekommen?«
Badri war ohne seinen Mantel gekommen. Sein Laborkittel war naß, sein Gesicht vor Kälte halb erfroren. »Sie sehen richtig durchgefroren aus«, sagte Mary. »Kommen Sie und setzen Sie sich.« Sie machte eine einladende Handbewegung zu dem leeren Platz auf der Holzbank neben Latimer. »Ich bringe Ihnen einen Brandy.«
»Haben Sie die Fixierung bekommen?« fragte Dunworthy.
Er war nicht nur naß, er war durchnäßt. »Ja«, sagte er, und seine Zähne fingen an zu klappern.
»Gut gemacht«, sagte Gilchrist, stand auf und klopfte ihm auf die Schulter. »Ich dachte, Sie sagten, es würde eine Stunde erfordern. Darauf müssen wir anstoßen. Haben Sie Champagner?« rief er dem Barkeeper zu, dann klopfte er Badri wieder auf die Schulter und ging hinüber zur Theke.
Badri stand da, schaute ihm nach und rieb sich fröstelnd die Oberarme. Er schien unaufmerksam, wie benommen.
»Sie haben die Fixierung tatsächlich bekommen?« fragte Dunworthy.
»Ja«, sagte er, ohne den Blick von Gilchrist zu wenden.
Mary kam mit dem Brandy an den Tisch zurück. »Das wird Sie ein bißchen aufwärmen«, sagte sie und drückte ihm das Glas in die Hand. »Da. Trinken Sie es mit einem Zug aus. Ärztliche Anweisung.«
Er starrte stirnrunzelnd auf das Glas, als wüßte er nicht, was es war. Seine Zähne schlugen noch immer aufeinander.
»Was gibt es?« fragte Dunworthy. »Ist mit Kivrin alles gutgegangen?«
»Kivrin«, sagte er, das Glas anstarrend, und dann schien er plötzlich zu sich zu kommen. Er stellte das Glas auf den Tisch. »Sie müssen mitkommen«, sagte er, machte kehrt und wand sich zwischen den Tischen durch zur Tür.
»Was ist geschehen?« Dunworthy sprang auf. Die Krippenfiguren fielen um, und eines der Schafe rollte über die Tischkante und fiel zu Boden.
Badri öffnete schon die Tür. Von draußen drangen die Töne des Glockenspiels herein: »Frohlocket, ihr Christen.«
»Warten Sie, Badri, wir müssen anstoßen«, sagte Gilchrist, der mit einer Flasche Champagner und einer Handvoll Gläser zum Tisch zurückkam.
Dunworthy griff zum Mantel.
»Was gibt es?« fragte Mary. Ihre Hand tastete schon zur Einkaufstasche. »Hat er die Fixierung nicht bekommen?«
Dunworthy antwortete nicht. Den Mantel in der Hand, eilte er Badri nach und zur Tür hinaus. Der Techniker war bereits ein gutes Stück voraus, stieß und drängte sich durch die Passanten mit ihren Weihnachtseinkäufen, als wären sie nicht da. Es regnete stark, aber auch das schien Badri nicht zu bemerken. Dunworthy zog im Gehen den Mantel an und kämpfte sich durch den Passantenstrom.
Etwas war schiefgegangen. Es hatte schließlich doch eine Verschiebung gegeben, oder der Lehrling hatte einen Fehler in den Berechnungen. Vielleicht war etwas mit dem Netz selbst nicht in Ordnung. Aber es hatte Sicherungen und Unterbrecher. Wenn es einen Defekt im Netz gegeben hätte, wäre Kivrin nicht durchgegangen. Und Badri hatte gesagt, er habe die Fixierung.
Es mußte die Verschiebung sein. Das war das einzige, was bei einer geglückten Absetzoperation schiefgegangen sein konnte.
Weit voraus überquerte Badri die Straße, entging mit knapper Not einem Radfahrer. Dunworthy stürmte zwischen zwei Frauen durch, deren Einkaufstaschen noch größer als Marys waren, stolperte beinahe über einen weißen Terrier an einer Leine und bekam Badri zwei Häuser weiter wieder zu Gesicht.
»Badri!« rief er. Der Techniker wandte sich halb um und prallte gegen eine Frau mittleren Alters mit einem großen geblümten Regenschirm.
Die Frau war gegen den Regen vorgebeugt und hielt den Schirm schräg vor sich, so daß sie Badri offensichtlich auch nicht gesehen hatte. Der mit Veilchen bedruckte Schirm schien aufwärts zu explodieren, dann fiel er auf das Pflaster. Badri lief blindlings in den Schirm und kam beinahe zu Fall.
»Geben Sie gefälligst acht, wohin Sie laufen!« sagte die Frau zornig. Sie faßte nach dem Rand des Regenschirmes. »Überhaupt ist das hier keine Rennbahn, nicht?«
Badri sah sie und den Schirm mit dem gleichen benommenen Blick an, der Dunworthy im Lokal aufgefallen war. »Tut mir leid.« Dunworthy sah, wie er sich bückte, um den Schirm aufzuheben. Die beiden schienen einen Augenblick vor dem Hintergrund der Veilchen miteinander zu ringen, bis Badri den Handgriff zu fassen bekam und den Schirm aufrichtete. Er gab ihn der Frau, deren fleischiges Gesicht rot vor Zorn oder dem kalten Regen oder beidem war.
»Es tut Ihnen leid?« sagte sie und hob den Schirm über den Kopf, als wollte sie ihn damit schlagen. »Ist das alles, was Sie zu sagen haben?«
Er hob die Hand zur Stirn, und dann schien ihm einzufallen, wo er war, und er eilte im Laufschritt weiter. Beim Tor des Brasenose College bog er ein, und Dunworthy folgte ihm über den Hof, durch einen Korridor und ins Laboratorium. Badri saß schon über die Konsole gebeugt und starrte stirnrunzelnd auf den Bildschirm.
Dunworthy hatte befürchtet, ein unsinniges Durcheinander darauf zu finden, oder — was noch schlimmer wäre — ein leeres Geflimmer, aber der Bildschirm zeigte die geordneten Zahlenkolonnen einer Fixierung.
»Sie haben die Fixierung?« keuchte Dunworthy.
»Ja«, sagte Badri. Er wandte sich und blickte zu Dunworthy auf. Seine Stirn war jetzt glatt, doch zeigte sein Gesicht einen seltsam geistesabwesenden Ausdruck, als hätte er Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren.
»Wann war…«, sagte er und begann zu zittern. Seine Stimme verlor sich, als hätte er vergessen, was er sagen wollte.
Die Tür flog auf, und Gilchrist und Mary kamen hereingeeilt, gefolgt von Latimer, der mit seinem Schirm kämpfte. »Was gibt es? Was ist passiert?« sagte Mary.
»Wann war was, Badri?« verlangte Dunworthy zu wissen.
»Ich habe die Fixierung«, sagte Badri. Er schaute zum Bildschirm.
»Ist sie das?« sagte Gilchrist und beugte sich über seine Schulter. »Was haben all diese Symbole zu bedeuten? Sie müssen es für uns Laien übersetzen.«
»Wann war was?« wiederholte Dunworthy.
Badri faßte sich an die Stirn. »Da stimmt was nicht«, sagte er.
»Was?« rief Dunworthy. »Verschiebung? Ist es die Verschiebung?«
»Verschiebung?« sagte Badri. Er fröstelte so sehr, daß er das Wort kaum heraus bekam.
»Badri«, sagte Mary. »Ist Ihnen nicht gut?«
Badri bekam wieder den seltsam geistesabwesenden Blick, als könne er sich nicht auf die Antwort besinnen.
»Nein«, sagte er und fiel vornüber auf die Konsole.
Sie hörte die Glocke schlagen, als sie durchkam. Es klang dünn und blechern, wie die Klänge des Glockenspiels vom Tonband, die sie für Weihnachten spielten. Das Laboratorium sollte schalldicht sein, aber jedesmal wenn jemand von außen die Tür zum Vorzimmer öffnete, hatte sie die leisen, geisterhaften Töne des Glockenspiels hören können.
Dr. Ahrens war zuerst hereingekommen, dann Mr. Dunworthy, und beide Male war Kivrin überzeugt gewesen, daß sie gekommen seien, um ihr zu sagen, daß sie nun doch nicht gehen könne. Schon im Krankenhaus, als Kivrins antivirale Impfung zu einer riesigen roten Schwellung an der Unterseite ihres Armes geführt hatte, hätte Dr. Ahrens das Projekt beinahe abgesagt. »Sie werden nirgendwohin gehen, solange die Schwellung nicht zurückgeht«, hatte Dr. Ahrens gesagt und ihr die Entlassung aus dem Krankenhaus verweigert. Der Arm juckte noch immer, aber das würde sie Dr. Ahrens nicht sagen, denn die könnte es Mr. Dunworthy weitererzählen, der von einem Entsetzen ins andere gefallen war, seit er erfahren hatte, daß sie gehen würde.
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