Von einer Straße oder auch nur einem Pfad war nichts zu sehen. Kivrin umging den Wagen und die umhergestreuten Kisten und Körbe und hielt Ausschau nach einem Durchlaß zwischen den Bäumen. In der Richtung, die sie instinktiv für Westen hielt, schien der Wald etwas lichter, doch als sie in diese Richtung ging, immer wieder zurückblickend, um sicherzugehen, daß sie noch das verwitterte Blau vom Verdeck des Fuhrwerks sehen konnte, war es nur ein Birkengehölz, dessen weiße Stämme die Illusion von Licht und Raum hervorriefen. Sie ging zurück zum Fuhrwerk und versuchte ihr Glück in der entgegengesetzten Richtung, obwohl der Wald dort dunkler aussah.
Die Landstraße war nur hundert Schritte entfernt. Kivrin überkletterte einen umgestürzten Stamm und arbeitete sich durch ein Weidendickicht und sah sich am Rand der Straße. Eine Landstraße, hatte es geheißen, aber so sah sie nicht aus. Was vor ihr lag, war mehr ein Ziehweg mit ausgewaschenen Spurrinnen. Oder ein Weideweg für Rinder. Dies also waren die Fernstraßen im England des 14. Jahrhunderts, die den Handel förderten und Horizonte erweiterten.
Die Straße war kaum breit genug für ein Fuhrwerk, obwohl die tief eingeschnittenen Spurrinnen zeigten, daß sie hin und wieder befahren wurde. Hier und dort stand schwarzes Wasser in den Wagenspuren und bildete Pfützen am Wegrand. Der Wind hatte Laub darübergestreut und stellenweise zu knietiefen Haufen zusammengefegt. Auf einigen der Wasserlachen hatte sich dünnes Eis gebildet.
Kivrin stand in einer Talsenke zwischen zwei sanft abfallenden Höhenzügen. In beiden Richtungen stieg die Straße gleichmäßig an, und in der Richtung, die nach ihrem Gefühl Norden sein mußte, endete der Wald auf halber Höhe. Sie wandte sich um und blickte zurück. Es war möglich, von ihrem Standort das Fuhrwerk zu sehen — einen verwaschenen blauen Fleck -, aber niemand würde ihn sehen, wenn er nicht danach suchte. Zu beiden Seiten schob sich der Wald bis unmittelbar an die Straße heran und machte die Strecke vorzüglich geeignet für Überfälle von Halsabschneidern und Räubern.
Es war genau der richtige Ort, um ihrer Geschichte Glaubwürdigkeit zu verleihen, aber Reisende würden sie niemals sehen, wenn sie hier vorbeieilten, oder wenn sie den verwaschenen blauen Fleck der Wagenplane bemerkten, würden sie denken, es sei ein Schlupfwinkel von Wegelagerern, und ihre Pferde anspornen.
Auf einmal kam Kivrin der Gedanke, daß sie sich durch ihr Herumstehen hier im Wald verdächtig machen würde, statt eines unschuldigen jungen Mädchens, das kurz zuvor niedergeschlagen und beraubt worden war, selbst eine von den Halsabschneidern zu sein.
Sie trat auf die Straße und hielt sich mit einer Hand die Schläfe. »O ir friunt, ic pitte, daz ir mir hilflich send!« rief sie.
Der Implantdolmetscher sollte alles, was sie sagte, automatisch in mittelalterliche Sprache übersetzen, aber Mr. Dunworthy hatte darauf bestanden, daß sie ihre ersten Äußerungen auswendig lerne. Sie und Mr. Latimer hatten mit ihr den ganzen Nachmittag die Aussprache geübt.
»Hilfa, ir here, denn ic bin gislagan von roubaere!« rief sie.
Sie dachte daran, sich auf dem Weg zu werfen, doch nun, da sie einen weiteren Überblick hatte, konnte sie sehen, daß es noch später als vermutet war und der Sonnenuntergang nicht mehr fern sein konnte. Und wenn sie sehen wollte, was jenseits des Höhenrückens lag, tat sie gut daran, nicht länger zu warten. Als erstes aber mußte sie den Absetzort mit irgendeinem Zeichen markieren.
Die Sträucher entlang der Straße zeichneten sich durch keine Besonderheiten aus. Kivrin hielt Ausschau nach einem größeren Stein, um ihn an die Stelle zu legen, wo sie noch das Fuhrwerk sehen konnte, aber es war keiner zu finden. Schließlich arbeitete sie sich durch das Dickicht zurück, blieb mit Haaren und Umhang in den Zweigen hängen, hob das messingbeschlagene kleine Kästchen auf, das die Kopie eines anderen im Ashmolean Museum war, und trug es zurück zum Straßenrand.
Es war keine vollkommene Lösung, denn das Kästchen lud jeden Wanderer und Reisenden ein, es an sich zu nehmen, aber sie wollte nur bis zur Kuppe des Höhenzuges gehen. Wenn sie sich dort entschloß, zum nächsten Dorf zu gehen, würde sie vorher zurückkommen und eine dauerhaftere Markierung anbringen. Und nach dem Zustand des Weges zu urteilen, war nicht so bald mit Reisenden zu rechnen. Die steilen Ränder der Wagengeleise waren hartgefroren, das Laub lag unberührt, und das dünne Eis auf den Pfützen war ungebrochen. Hier war den ganzen Tag niemand gegangen oder gefahren, vielleicht die ganze Woche nicht.
Sie verbarg das Kästchen im welken Gras und legte einen Zweig darüber, dann stieg sie die Anhöhe hinauf. Bis auf die gefrorenen Schlammlöcher in der Talsenke war die Straße ebener als Kivrin zuerst gedacht hatte; anscheinend wurde sie in der warmen Jahreszeit öfter begangen als ihre gegenwärtige Verlassenheit vermuten ließ.
Es war ein leichter Anstieg, aber Kivrin fühlte sich schon nach wenigen Schritten müde, und der dumpfe Kopfschmerz begann wieder zu pochen. Sie hoffte, daß die Zeitverzögerungssymptome sich nicht verschlimmern würden — sie konnte bereits sehen, daß sie weit von irgendeiner Siedlung entfernt war. Oder vielleicht war das nur eine Täuschung. Sie hatte sich noch immer nicht ihres »genauen zeitlichen Standortes« vergewissert, und an diesem Waldweg und dem Wald selbst war nichts, was eindeutig auf 1320 hinwies.
Die einzigen Zeichen von Zivilisation waren diese tiefen Spurrinnen, die aber nicht mehr besagten als daß sie in jeder beliebigen Zeit nach der Erfindung des Rades und vor dem Aufkommen gepflasterter und geteerter Straßen sein konnte, und nicht einmal das: In ländlichen Gegenden gab es noch heute Ziehwege wie diesen, und keine fünf Meilen von Oxford wurden genau solche Wege für die japanischen und amerikanischen Touristen liebevoll instandgehalten.
Womöglich war sie nirgendwo hingekommen, und auf der anderen Seite dieses Höhenrückens würde sie die Autobahn finden, oder Mrs. Montoyas Ausgrabungsstätte, oder eine Raketenstellung. Es war ein schrecklicher Gedanke, ihren zeitlichen Standort dadurch zu bestimmen, daß sie von einem Fahrrad oder Auto angefahren würde, und sie wich unwillkürlich zum Straßenrand aus. Aber warum hatte sie diese elenden Kopfschmerzen und das Gefühl, keine zehn Schritte mehr gehen zu können, wenn sie nirgendwohin gekommen war?
Sie erreichte den Höhenrücken und blieb stehen, außer Atem. Sie hätte sich nicht am Straßenrand zu halten brauchen. Bislang war noch kein Wagen vorbeigekommen, auch kein Pferdewagen, und sie war, wie sie gedacht hatte, weit von irgendeiner Siedlung entfernt. Hier oben standen keine Bäume, und sie konnte weite Strecken des Landes überblicken. Der Wald, in dem sie abgesetzt worden war, endete auf halber Höhe des Hügels und erstreckte sich unabsehbar weit nach Süden und Westen. Wäre sie tiefer in seinem Inneren durchgekommen, hätte sie sich ohne Kompaß wirklich hoffnungslos verlaufen.
Wald gab es auch fern im Osten, wo er einem Flußlauf folgte, dessen silbrige Oberfläche sie da und dort blinken sah — die Themse? der Cherwell? -, und das ganze Land dazwischen war durchzogen von Hecken, Baumgruppen, Gehölzen und vereinzelt stehenden Bäumen, mehr als es nach ihrem Wissen je in England gegeben hatte. Das Doomsday Book von 1086 hatte nicht mehr als 15 Prozent des Landes als bewaldet angegeben, und die Forschung war davon ausgegangen, daß Waldrodungen und Siedlungen diesen Prozentsatz bis 1300 auf 12 Prozent verringert haben würde. Wie es schien, hatten die Forscher oder schon die Männer, die das Doomsday Book geschrieben hatten, die Waldflächen unterschätzt. Überall gab es Bäume.
Kivrin konnte keine Dörfer sehen. Die Wälder standen entlaubt, die Zweige reckten sich schwarzgrau in den dämmernden Spätnachmittag, und sie sollte in der Lage sein, Kirchtürme und Häuser zu sehen, aber es war weit und breit nichts zu entdecken, das wie eine Siedlung aussah.
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