Ich blickte in Richtung Cockpit, um zu prüfen, ob uns jemand zuhörte, doch Morris saß ganz vorne und schwatzte mit einer Flugbegleiterin, und Ray war in ein Buch vertieft. »Bis zu einem gewissen Punkt bin ich einverstanden«, sagte ich. »Ich werde vernünftig bezahlt, während viele gar nichts bekommen, und ich bekomme Dinge zu Gesicht, von denen ich nie gedacht hätte, sie je zu Gesicht zu bekommen.« Dass der Job meiner Obsession entgegenkam, ließ ich unerwähnt. »Aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Ich kann nicht versprechen…«
Um jeden Preis dabei zu bleiben, wollte ich sagen. Ein Ministrant wie Ray Mosely zu werden. Nicht, wenn die Welt zum Teufel ging und ich eine Tochter zu beschützen hatte.
Sue sprang mir mit einem nachdenklichen Lächeln bei: »Mach dir keine Sorgen, Scotty. Niemand verspricht mehr etwas. Keiner weiß mehr etwas. Gewissheit ist ein Luxus, den wir uns abschminken können.«
Ich war schon früh mit solcher Ungewissheit konfrontiert gewesen. Eine Regel des Zusammenlebens mit einem schizophrenen Elternteil heißt: Verrücktsein ist normal. Man kann es aushalten. Zumindest — wie ich Sue erklärt hatte — bis zu einem gewissen Punkt.
Danach überspült der Wahnsinn alles. Er kriecht in dich hinein und richtet sich dort ein, bis du niemandem mehr traust, nicht einmal dir selbst.
Der erste Kontrollpunkt des Highway One war zugleich der kritischste. Hier wies die IDF Leute ab, die verrückterweise von der Evakuierung angezogen wurden.
Vor Jahrzehnten hatte man das »Jerusalemsyndrom« als psychische Erkrankung eingestuft. Besucher wurden manchmal von der kulturellen und mythologischen Bedeutung der Stadt überwältigt. Sie identifizierten sich allzu sehr damit, zogen Sandalen an und hüllten sich in Bettlaken, predigten auf dem Ölberg oder versuchten auf dem Tempelberg Tiere zu opfern. Mit diesem Phänomen schlug sich die psychiatrische Klinik Kfar Shaul nicht erst seit der Jahrhundertwende herum.
Die globale Ungewissheit, die von den Chronolithen ausging, hatte eine neue Pilgerwelle ausgelöst, und die Evakuierung hatte das Fieber noch angeheizt. Jerusalem wurde evakuiert, um seine Einwohner in Sicherheit zu bringen, aber so etwas hatte noch nie einen Fanatiker gekümmert. Wir schlängelten uns durch eine Fahrzeugkolonne — manche Autos, deren Insassen nicht kehrtgemacht hatten, standen verlassen am Kontrollpunkt. Es herrschte ein ständiger Transit von Polizeifahrzeugen, Ambulanzen und Abschleppwagen.
Wir nahmen das Hindernis bei Einbruch der Dunkelheit und erreichten, als der letzte Schimmer des Tages verblasste, ein größeres Hotel auf dem Mt. Scopus.
Ein Netz von Beobachtungsposten lag über die Stadt verteilt: nicht nur die unseren, auch Militärposten, ein UN-Posten, Abordnungen von israelischen Universitäten und das internationale Pressezentrum auf der Haas Promenade. Der Mt. Scopus ( Har HaTsojim auf Hebräisch, was so viel wie »überblicken« heißt) war allerdings ein ausgesuchter Ort. Hier hatten um 70 n. Chr. die Römer ihr Lager aufgeschlagen, bevor sie aufbrachen, um die jüdische Revolte niederzuschlagen. Aus ähnlichen Gründen waren auch die Kreuzritter hier gewesen. Die Altstadt bot einen spektakulären und zugleich bestürzenden Anblick. Die Evakuierung, besonders der palästinensischen Bezirke, war nicht reibungslos verlaufen. Die Flammen züngelten immer noch.
Ich folgte Sue durch das verwaiste Foyer zu einer Flucht benachbarter Zimmer auf der obersten Etage. Hier lag das Zentrum der Operation. Man hatte die Vorhänge heruntergenommen und eine Crew von Technikern hatte fotografische und andere Überwachungssysteme aufgestellt sowie — weit beunruhigender — eine Batterie starker Heizungen. Die meisten Leute hier gehörten zu Sues Forschungsprojekt, nur ein paar davon waren ihr allerdings persönlich begegnet. Etliche beeilten sich, ihr die Hand zu schütteln. Sue freute sich darüber, war aber offensichtlich erschöpft.
Morris zeigte uns unsere privaten Zimmer und schlug vor, sich nach dem Frischmachen im Foyer-Restaurant einzufinden.
Sue wunderte sich laut, wie es denn dem Restaurant gelungen sei, während der Evakuierung offenzuhalten. »Das Hotel liegt außerhalb der primären Sperrzone«, sagte Morris. »Es gibt eine Minimalbesetzung, die sich um uns kümmert, lauter Freiwillige, und einen beheizten Bunker hinter der Küche.«
Auf meinem Zimmer nahm ich mir ein paar Minuten Zeit, mir die Stadt anzusehen, die wie eine steinerne Bettspreite über die judäischen Berge geworfen war. Die Straßen in der Nähe waren leer bis auf die Security-Patrouillen und vereinzelte Ambulanzen aus dem Hadassah Mt. Sinai ein paar Straßen von hier. Verkehrsampeln nickten im Wind wie gelähmte Engel.
Der IDF-Mann im Wagen hatte etwas Interessantes gesagt, als wir den Kontrollpunkt passierten. Damals, sagte er, hätten sich die Fanatiker, die nach Jerusalem kamen, gewöhnlich für den wiederauferstandenen Jesus oder für Johannes den Täufer oder den ersten und einzig wahren Messias gehalten.
Seit kurzem würden viele behaupten, Kuin zu sein.
Eine Stadt, die viel zu viel Geschichte erlebt hatte, wollte immer noch mehr davon.
Im riesigen Atrium des Hotels wurde ich bereits von Sue, Morris und Ray erwartet. Morris umfasste mit einer Geste die fünf Etagen hängender Pflanzen und sagte: »Prüf es nach, Scotty, das sind die hängenden Gärten von Semiramis.«
»Babylon ist ziemlich weit östlich von hier«, sagte Sue. »Aber sicher.«
Im Foyer-Restaurant steuerten wir auf einen Tisch zu, der möglichst weit von den einzigen anderen Gästen entfernt war, lauter IDF-Leuten, Männer und Frauen, zusammengepfercht in einer roten Vinyl-Nische.
Unsere Kellnerin (die einzige) war eine ältere Frau mit amerikanischem Akzent. Sie behauptete, die Evakuierung mache ihr nichts aus, auch wenn sie dadurch gezwungen sei, im Hotel zu übernachten. »Ich fahre sowieso nicht gerne in diesen leeren Straßen herum, so sehr ich mich früher über den Verkehr beklagt habe.« Heute Abend gebe es Hähnchen mit Mandeln. Sonst nichts, außer jemand sei auf irgendwas allergisch. In dem Fall ließe der Küchenchef bestimmt mit sich reden.
Hähnchen für alle, und Morris bestellte eine Flasche Weißwein.
Ich erkundigte mich nach dem Programm für den nächsten Tag. Morris sagte: »Abgesehen von der wissenschaftlichen Arbeit steht uns am Nachmittag der israelische Verteidigungsminister ins Haus. Samt Presse.« Er setzte hinzu: »Ein belangloser Besuch. Wir wären nicht hier, wenn wir mehr Informationen besäßen als die israelische Regierung. Eine Inszenierung für die Medien. Aber Ray und Sue müssen sich schon ein paar allgemeinverständliche Erklärungen ausdenken.«
Ray fragte: »Kriegt er Minkowski-Eis oder Feedback?«
Morris und ich verzogen keine Miene. Sue sagte: »Man schließt andere nicht aus, Ray. Das sind schlechte Manieren. Morris, Scotty, ihr habt doch sicher schon mal einen Blick in die Berichte für den Kongress geworfen.«
»Die Version für Analphabeten«, sagte Morris.
»Wir verwenden viel Zeit darauf, Mathematik in Worte zu kleiden.«
»Die Suche nach Metaphern«, sagte Ray.
»Wir dürfen die Menschen nicht im Unklaren lassen. Wir können natürlich nur erklären, was wir auch verstehen, und das ist nicht eben viel.«
Ray ließ nicht locker. »Minkowski-Eis oder positives Feedback?«
»Feedback, denke ich.«
Morris sagte: »Ich fühle mich immer noch ausgeschlossen.«
Sue zeigte steile Fältchen zwischen den Brauen. »Morris, Scotty, Feedback ist euch doch ein Begriff?«
Was ich mit Sues Code machte, hatte zur Hälfte mit Rekursion und Selbstverstärkung zu tun. Doch sie redete von etwas viel Allgemeinerem. Ich sagte: »Feedback ist, wenn man in der Aula aufsteht, um sich von der High-School zu verabschieden, und die Lautsprecher quieken wie ein Ferkel in Todesangst.«
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