»Dann haben also die Guten gewonnen«, sagte ich.
Jason grinste. »Ich weiß nicht genau, ob von denen überhaupt einer kandidiert hat.«
»Ich dachte, Lomax sei gut für uns.«
»Vielleicht. Du darfst aber nicht glauben, dass ihm viel an Perihelion oder dem Replikatorenprogramm gelegen ist, außer als Mittel, den Raumfahrtetat zu begrenzen und gleichzeitig den Eindruck zu erwecken, einen großen Schritt nach vorn zu tun. Die Bundesmittel, die er auf diese Weise freimacht, werden in den Verteidigungshaushalt gepumpt. Das ist auch der Grund, warum E. D. keine richtige Anti-Lomax-Stimmung unter seinen alten Kumpeln aus der Raumfahrtindustrie erzeugen konnte. Lomax lässt Boeing oder Lockheed Martin nicht verhungern — sie sollen sich nur umorientieren.«
»Aufs Militärische.« Das Abklingen globaler Konflikte in der ersten Verwirrung nach dem Spin war längst Vergangenheit; eine militärische Aufrüstung war so gesehen vielleicht gar keine schlechte Idee.
»Wenn man glaubt, was Lomax sagt.«
»Tust du das nicht?«
»Ich fürchte, das kann ich mir nicht leisten.«
Mit dieser enigmatischen Aussage ging ich zu Bett.
Am nächsten Morgen verabreichte ich ihm die erste Injektion. Jason legte sich im Wohnzimmer auf ein Sofa. Er trug Jeans und ein Baumwollhemd, wirkte aristokratisch, aber leger, hinfällig, aber entspannt. Falls er Angst hatte, ließ er sich davon nichts anmerken. Er rollte seinen rechten Ärmel auf und legte die Ellenbeuge frei.
Ich nahm eine Spritze aus meinem Arztkoffer, befestigte eine sterile Nadel daran und füllte sie mit der klaren Flüssigkeit aus einer der Phiolen. Wun hatte den Vorgang mit mir geprobt. Die Regularien des Vierten Alters. Auf dem Mars hätte es ein stilles Zeremoniell in einer beruhigenden Umgebung gegeben — hier mussten wir mit dem Licht der Novembersonne und dem Ticken teurer Uhren vorlieb nehmen.
Ich tupfte die Haut ab, bevor ich die Spritze ansetzte. »Du brauchst nicht hinzusehen.«
»Ich möchte aber. Zeig mir, wie es geht.«
Er hatte immer schon, bei allem, wissen wollen, wie es geht.
Die Injektion zeitigte keine unmittelbare Wirkung, doch um die Mittagszeit des folgenden Tages hatte Jason ein leichtes Fieber entwickelt. Es sei nicht schlimmer als eine Erkältung, sagte er, und am Nachmittag forderte er mich auf, mein Fieberthermometer und meine Blutdruckmanschette zu nehmen und — nun ja, damit sonstwohin zu gehen.
Also schlug ich meinen Kragen gegen den Regen hoch — ein nieselnder, hartnäckiger Regen, der in der Nacht begonnen hatte und schon den ganzen Tag andauerte — und ging noch einmal über den Rasen zum Haus meiner Mutter, wo ich ANDENKEN (AUSBILDUNG) aus dem Keller holte und hinauf ins Wohnzimmer trug.
Regentrübes Licht kam durch die Vorhänge. Ich machte eine Lampe an.
Meine Mutter war im Alter von sechsundfünfzig Jahren gestorben. Achtzehn Jahre lang hatte ich hier mit ihr gewohnt. Das war etwas mehr als ein Drittel ihres Lebens. Von den übrigen zwei Dritteln hatte ich nur das gesehen, was sie gewillt war mir zu zeigen. Von Bingham, ihrer Heimatstadt, hatte sie hin und wieder erzählt — ich wusste, dass sie mit ihrem Vater (einem Immobilienmakler) und ihrer Stiefmutter (die in einer Altentagesstätte arbeitete) in einem Haus am oberen Ende einer abschüssigen, von Bäumen gesäumten Straße gewohnt hatte; dass sie als Kind eine Freundin namens Monica Lee gehabt hatte; dass es dort eine überdachte Brücke gegeben hatte, einen Fluss namens Little Wyecliff und eine presbyterianische Kirche, die sie nicht mehr besucht hatte, seit sie sechzehn war, und in die sie erst zur Beerdigung ihrer Eltern zurückgekehrt war. Doch sie hatte nie von Berkeley gesprochen oder davon, was sie mit ihrem MBA anzustellen gehofft, oder warum sie meinen Vater geheiratet hatte.
Ein- oder zweimal hatte sie diese Kartons vom Regal geholt, um mir den Inhalt zu zeigen, mich davon zu überzeugen, dass sie — unfassbar — schon ein Leben geführt hatte, bevor ich auf der Welt war. Dies war der Beweis dafür, Beweisstücke A, B und C, drei Kartons mit ANDENKEN und KRIMSKRAMS. Darunter zusammengefaltete Zeugnisse echter, belegbarer Geschichte: toffeebraune Zeitungstitelseiten, die von Terroranschlägen, Kriegsausbrüchen, gewählten oder angeklagten Präsidenten kündeten. Hier fand sich auch der Tand, den ich als Kind gern in der Hand gehalten hatte: ein angelaufenes Fünfzig-Cent-Stück, geprägt im Geburtsjahr ihres Vaters (1951), vier braune und rosa Muscheln vom Strand in Cobscook Bay.
ANDENKEN (AUSBILDUNG) war für mich die unattraktivste Schachtel gewesen. Sie enthielt die Wahlkampfplakette eines offensichtlich erfolglosen demokratischen Kandidaten für irgendein hohes Amt, die ich ihrer Buntheit wegen geschätzt hatte, aber ansonsten gab es dort nur Mutters Abgangszeugnis, ein paar aus ihrem letzten Jahrbuch herausgerissene Seiten und ein Bündel von kleinen Umschlägen, für die ich mich nie interessiert hatte — oder hätte interessieren dürfen.
Jetzt öffnete ich einen dieser Umschläge und überflog den Inhalt so weit, dass ich registrieren konnte: a) es war ein Liebesbrief und b) die Handschrift glich in keiner Weise der ordentlichen Schrift meines Vaters in den ellenlangen Briefen aus ANDENKEN (MARCUS).
Hatte meine Mutter einen Collegeverehrer gehabt? Das war eine Neuigkeit, die Marcus Dupree hätte verstören können — sie hatte ihn eine Woche nach Studienabschluss geheiratet —, ansonsten aber keinen Menschen ernsthaft schockiert hätte. Mit Sicherheit war es kein Grund, die Schachtel im Keller zu verstecken, schon gar nicht, wenn sie vorher jahrelang gut sichtbar auf dem Regal gestanden hatte.
War es überhaupt meine Mutter gewesen, die sie versteckt hatte? Ich wusste nicht, wer alles in ihrem Haus gewesen war in der Zeit zwischen ihrem Schlaganfall und meinem Eintreffen einen Tag später. Carol hatte sie gefunden, vermutlich hatten einige Bedienstete aus dem Großen Haus hinterher beim Saubermachen geholfen, und es mussten Sanitäter da gewesen sein, die sie versorgt und transportfertig gemacht hatten. Keiner von ihnen hätte einen auch nur annähernd plausiblen Grund gehabt, ANDENKEN (AUSBILDUNG) in den Keller zu tragen und in die Lücke zwischen Heizkessel und Wand zu schieben.
Und vielleicht war es auch völlig egal. Es lag schließlich kein Verbrechen vor, sondern nur ein kurioses Verschwinden und Wiederauftauchen. Konnte auch ein Poltergeist gewesen sein. Vermutlich würde ich es nie erfahren, und es war sinnlos, sich weiter damit zu beschäftigen. Alles, was sich in diesem Zimmer, in diesem Haus befand, einschließlich der Kartons, würde früher oder später verwertet, verkauft oder weggeworfen werden müssen. Ich hatte es auf die lange Bank geschoben, Carol ebenso, doch es war überfällig.
Aber bis dahin…
Bis es so weit war, stellte ich ANDENKEN (AUSBILDUNG) erst einmal zurück aufs Regal, zwischen ANDENKEN (MARCUS) und KRIMSKRAMS. Und machte das leere Zimmer damit wieder vollständig.
Die heikelste Frage, die ich Wun Ngo Wen in Bezug auf Jasons Behandlung gestellt hatte, war die nach den möglichen Wechselwirkungen des Präparats mit anderen Medikamenten. Ich konnte Jasons konventionelle Medikation nicht absetzen, ohne einen Rückfall zu provozieren. Doch ebenso beunruhigend fand ich die Vorstellung, seine tägliche Medikamentendosis mit Wuns biochemikalischer Generalüberholung zu kombinieren.
Wun versprach, dass es keine Probleme geben werde. Der Langlebigkeitscocktail sei kein Medikament, keine »Droge« im herkömmlichen Sinne, was ich in Jasons Blutkreislauf injizieren würde, entspreche eher einem Computerprogramm. Konventionelle Medikamente interagierten mit Proteinen und Zelloberflächen — Wuns Mittelchen interagierte mit der DNA selbst.
Dennoch: Es musste in eine Zelle eintreten, um sein Werk zu tun, und auf dem Weg dorthin musste es sich mit Jasons Blutchemie und Immunsystem auseinander setzen — oder? Wun hatte erklärt, dass das alles keine Rolle spiele. Der Langlebigkeitscocktail sei so flexibel, dass er unter allen physiologischen Bedingungen — es sei denn, der Proband ist tot — arbeiten könne.
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