»Könnte sein«, sagte Diane. »Zumal so kurz nach der Scheidung.«
»Welcher Scheidung? Sprichst du von E. D. und Carol?«
»Hat Jason dir das nicht erzählt? E. D. wohnt seit Mai in Georgetown zur Miete. Die Verhandlungen sind noch nicht abgeschlossen, aber es sieht so aus, als würde Carol das Große Haus plus Unterhaltszahlungen bekommen und E. D. den ganzen Rest. Die Scheidung war seine Idee, nicht ihre. Was nachzuvollziehen ist: Carol bewegt sich seit Jahrzehnten an der Schwelle zum Alkoholkoma. Sie war keine gute Mutter und sie kann E. D. auch keine besonders gute Frau gewesen sein.«
»Das heißt, du gibst ihm Recht?«
»Nein. Meine Haltung zu ihm hat sich nicht verändert. Er war ein schrecklicher, gleichgültiger Vater — jedenfalls für mich. Ich mochte ihn nicht, und ihm war das völlig egal. Aber ich hatte auch nicht diesen großen Respekt vor ihm, so wie Jason. Jason sah in ihm den übermächtigen Industriekönig, den großen Macher in Washington.«
»Ist er das nicht?«
»Er ist erfolgreich und hat Einfluss, das ist wahr, aber das muss man alles relativ sehen, Ty. Es gibt zehntausend E. D. Lawtons in diesem Land. E. D. wäre auf keinen grünen Zweig gekommen, wenn sein Vater und sein Onkel ihm nicht das erste Unternehmen finanziert hätten — und zwar in der Erwartung, da bin ich mir sicher, dass es ein Abschreibungsprojekt sein würde. E. D. hat das, was er gemacht hat, gut gemacht, und als der Spin ihm Möglichkeiten eröffnete, hat er sie eiskalt genutzt, was ihm wiederum die Aufmerksamkeit einiger wirklich einflussreicher Leute sicherte. Aber im Kreise der Mächtigen blieb er letztlich immer der Neureiche. Ihm fehlte einfach der Harvard-Yale-Stallgeruch. Keine Debütantinnenbälle für mich. Wir waren die armen Kinder in der Straße. Ich meine, es war eine nette Straße, aber es gibt altes Geld und es gibt neues Geld, und wir waren definitiv neues Geld.«
»Tja, von der anderen Seite des Rasens hat es wohl ein bisschen anders ausgesehen. Wie kommt Carol denn damit zurecht?«
»Ach, Carols Medizin kommt aus der gleichen Flasche wie eh und je. Aber was ist mit dir, Tyler? Wie steht’s mit dir und Molly?«
»Molly ist weg.«
»Weg wie in ›mal eben weggegangen‹ oder…«
»Richtig weg. Wir haben Schluss gemacht. Mir fällt kein beschönigender Ausdruck dafür ein.«
»Das tut mir Leid.«
»Danke, aber es ist nur zum Besten. Das sagen alle.«
»Simon und ich kommen ganz gut klar.« Ich hatte nicht danach gefragt. »Die Sache mit der Kirche macht ihm zu schaffen.«
»Neue Entwicklungen in der Kirchenpolitik?«
»Jordan Tabernacle hat gewisse rechtliche Probleme. Ich kenne nicht alle Einzelheiten. Wir sind auch nicht direkt beteiligt, aber Simon nimmt es sich sehr zu Herzen. Doch dir geht’s gut, bist du sicher? Du klingst ein bisschen kratzig im Hals.«
»Ich werd’s überleben«, sagte ich.
Am Morgen vor der Wahl packte ich ein paar Koffer — saubere Kleidung, einige Taschenbücher, medizinische Ausrüstung — in mein Auto und holte dann Jason ab, um mit ihm die Fahrt nach Virginia anzutreten. Er hatte nach wie vor eine Schwäche für schicke Autos, doch wir mussten unauffällig reisen — deshalb mein Honda, nicht sein Porsche. Die Highways waren nicht mehr sicher für Porsches.
Die Amtszeit von Präsident Garland war eine gute Zeit für jene gewesen, deren Jahreseinkommen über einer halben Million Dollar lag, und eine schwere Zeit für alle anderen. Das konnte man leicht erkennen, wenn man unterwegs war: entlang der Straße entfaltete sich ein Tableau aus Billigmärkten, mit Brettern vernagelten Malls, Parkplätzen, auf denen Menschen in reifenlosen Autos hausten, und Orten, die von einem Stuckey’s-Laden und einer Radarfalle lebten. Von der Polizei aufgestellte Schilder verkündeten NACH EINBRUCH DER DUNKELHEIT NICHT ANHALTEN oder FÜR SCHNELLE HILFE IN NOTFÄLLEN IST EINE BESTÄTIGTE MELDUNG UNTER 911 ERFORDERLICH. Die Highwaypiraterie hatte den Verkehr von PKWs um die Hälfte reduziert, und so verbrachten wir den größten Teil der Strecke im Wind- respektive Sichtschatten langer Sattelzüge, manche davon in deutlich reparaturbedürftigem Zustand, oder tarnfarbengrüner Armeelaster, die zwischen den diversen Militärbasen pendelten.
Aber wir redeten nicht über diese Dinge. Wir redeten auch nicht über die Wahl, deren Ausgang ohnehin feststand — Lomax führte in den Umfragen haushoch vor seinen Mitbewerbern. Wir redeten nicht über eisfressende Replikatoren, nicht über Wun Ngo Wen und ganz sicher nicht über E. D. Lawton. Stattdessen redeten wir über alte Zeiten und gute Bücher und über weite Strecken redeten wir auch gar nicht. Ich hatte die Anlage mit der schroffen, nicht unbedingt marktgängigen Sorte Jazz geladen, die Jason, wie ich wusste, gern hörte: Charlie Parker, Thelonius Monk, Sonny Rollins — Musiker, die bereits vor langer Zeit die Entfernung zwischen der Straße und den Sternen ausgelotet hatten.
Wir hielten vor dem Großen Haus, als die Dämmerung einbrach.
Es war hell erleuchtet, buttergelbe Fenster unter einem irisierend tintenblauen Himmel. Carol Lawton kam uns von der Veranda entgegen, ihr schmaler Körper in einen Strickpullover und paisleyfarbene Schals gehüllt. Dem festen, wenn auch etwas behutsamen Schritt nach zu urteilen, war sie nahezu nüchtern.
Jason schälte sich vorsichtig aus dem Beifahrersitz. Er war in Remission, jedenfalls so weit symptomfrei, wie es zu diesem Zeitpunkt noch möglich war. Mit ein wenig Anstrengung konnte er den Eindruck von Normalität erzeugen. Doch überraschenderweise stellte er diese Anstrengung umgehend ein, als wir das Große Haus erreicht hatten. Er krängte durch die Eingangshalle Richtung Esszimmer. Es waren keine Bediensteten anwesend — Carol hatte alles so arrangiert, dass wir das Haus ein paar Wochen lang für uns hatten —, aber der Koch hatte noch eine kalte Fleisch- und Gemüseplatte vorbereitet für den Fall, dass wir hungrig sein würden. Jason ließ sich in einen Sessel sinken.
Carol und ich folgten ihm. Sie war seit dem Tod meiner Mutter sichtlich gealtert: Ihr Haar war inzwischen so fein und dünn, dass ihre Schädelkonturen durchschimmerten, rosig, beinahe affenartig, und als ich ihren Arm nahm, fühlte er sich an wie Zündholz unter Seide. Ihre Wangen waren eingesunken. Ihre Augen zeigten die brüchige Munterkeit einer vorübergehend trockenen Alkoholikerin. Als ich sagte, dass es schön sei, sie wiederzusehen, lächelte sie fahl. »Danke, Tyler. Ich weiß, wie schrecklich ich aussehe. Gloria Swanson in Boulevard der Dämmerung. Nein, noch nicht bereit für die Nahaufnahme, verbindlichsten Dank, und Sie können mich mal gern haben.« Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete. »Aber ich bin noch da. Wie geht’s Jason?«
»Wie immer.«
»Lieb von dir, dass du Ausflüchte machst. Aber ich weiß — nun, ich will nicht sagen, dass ich alles weiß. Aber ich weiß, dass er krank ist. Und ich weiß, dass er sich von dir behandeln lassen will. Irgendeine unorthodoxe, aber wirksame Behandlung.« Sie sah mir in die Augen. »Es ist wirksam, nicht wahr, was immer du ihm verabreichen willst?«
Ich war zu verblüfft, um etwas anderes zu sagen als ja.
»Ich musste ihm nämlich versprechen, dass ich keine Fragen stelle. Ich nehme an, das hat seine Richtigkeit so. Jason vertraut dir. Also vertraue ich dir auch. Obwohl ich, wenn ich dich ansehe, unweigerlich das Kind sehe, das in dem Haus am anderen Ende des Rasens lebt. Aber ich sehe auch ein Kind, wenn ich Jason ansehe. Verschwundene Kinder… Ich weiß nicht, wo ich sie verloren habe.«
In der Nacht schlief ich in einem der Gästezimmer des Großen Hauses, einem Zimmer, das ich in all den Jahren, in denen ich auf dem Grundstück lebte, nie betreten, allenfalls mal flüchtig, vom Flur aus, gesehen hatte.
Jedenfalls einen Teil der Nacht schlief ich. Den Rest der Zeit lag ich wach und versuchte, das rechtliche Risiko abzuschätzen, das ich durch mein Herkommen eingegangen war. Ich wusste nicht, gegen welche Gesetze Jason genau verstieß, wenn er marsianische Pharmazeutika aus dem Perihelion-Gelände herausschmuggelte, aber in jedem Fall war ich bereits zum Mittäter geworden.
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