Tscharas und Mwen Mass’ Pferde gingen nebeneinander. Der Weg führte in das Tal des Flusses Galle, an dessen Mündung, nahe dem Meeresufer, sich eine medizinische Station und der Stützpunkt der Vernichtungstrupps befanden.
„Zum erstenmal, seitdem ich hier bin, sehe ich heute das Meer wieder“, brach Mwen Mass das Schweigen. „Bis jetzt glaubte ich, das Meer sei eine Absperrung, die für immer meine Welt begrenzt.“
„Die Insel war also eine Art Schule für Sie?“ stellte Tschara erfreut fest.
„Ja. In der kurzen Zeit habe ich viel erlebt und über vieles nachgedacht. All diese Gedanken haben mich schon lange bewegt.“
Mwen Mass erzählte, daß er früher befürchtet hatte, die Menschheit entwickle sich zu rational-technisch und wiederhole, freilich bei weitem nicht mehr so abstoßend, die Fehler der Vergangenheit. Er habe geglaubt, daß sich auf dem Planeten des Epsilon Tucanae eine der unseren sehr ähnliche Menschheit stark mit der Vervollkommnung der emotionalen Seite der Psyche beschäftigt.
„Die Harmonie mit dem Leben schien mir stets unvollkommen, und das bedrückte mich“, antwortete das Mädchen nach kurzem Überlegen. „Mich zog das Vergangene mehr an als das, was uns täglich umgibt. Ich träumte von einer Epoche unverbrauchter Gefühle und Kräfte. Immer wollte ich das Gefühl in meinen Zuschauern ansprechen. Wohl nur Ewda Nal hat mich völlig verstanden.“
„Und Mwen Mass“, fügte der Afrikaner ernst hinzu. Und er erzählte Tschara, wie sie ihm eines Tages als kupferhäutige Tochter des Tukan erschienen war.
„Unsere Vorfahren stellten uns in ihren Zukunftsromanen als halbe Rachitiker mit überentwickeltem Schädel dar. Trotz Millionen sezierter und zu Tode gequälter Tiere begriffen sie lange Zeit nicht den Gehirnmechanismus des Menschen, denn sie drangen dort mit dem Messer ein, wo die feinsten Meßgeräte molekularen und atomaren Maßstabes am Platze gewesen wären. Heute wissen wir, daß eine intensive Verstandestätigkeit einen kräftigen Körper voller Lebensenergie voraussetzt, aber solch ein Körper bringt auch starke Emotionen hervor.“
„Wir aber sind nach wie vor durch den Verstand gefesselt“, warf Tschara ein.
„Zwar wurde schon viel erreicht, doch die emotionale Seite ist hinter der intellektuellen zurückgeblieben. Man muß aufpassen, daß sie nicht gänzlich dem Verstand unterworfen wird, dagegen wäre es nicht schlimm, wenn der Verstand ihr zuweilen unterliegt. Mir erscheint diese Wechselbeziehung so wichtig, daß ich ein Buch darüber schreiben werde.“
„Großartig!“ rief Tschara temperamentvoll und fuhr dann verlegen fort: „Nur wenige große Wissenschaftler haben bisher die Gesetze des Schönen und der Vollkommenheit der Gefühle erforscht. Ich spreche in dem Fall nicht von den Psychologen.“
„Ich verstehe, was Sie meinen!“ antwortete der Afrikaner und betrachtete das Mädchen mit Wohlgefallen.
Leicht und ungezwungen saß Tschara auf dem hochbeinigen Rappen, der mit Mwen Mass’ Fuchs im gleichen Schritt ging.
„Wir sind zurückgeblieben!“ rief das Mädchen, ließ die Zügel locker, und sofort sprengte ihr Pferd davon.
Der Afrikaner holte sie schnell ein. Nachdem sie wieder Anschluß an ihre jungen Freunde gefunden hatten, zügelten sie die Pferde, und Tschara fragte Mwen Mass: „Und dieses Mädchen, Onar?“
„Sie muß in die Große Welt. Sie haben selbst gesagt, daß sie nur aus Anhänglichkeit an ihre kürzlich verstorbene Mutter auf der Insel geblieben ist. Onar könnte doch gut bei Weda arbeiten — bei den Ausgrabungen werden feinfühlige Frauenhände gebraucht. Und es gibt noch tausend andere Dinge, wo sie notwendig sind. Und Bet Lon, der in die Große Welt zurückkehrt, wird zu ihr auf ganz neue Weise finden!“
Tschara zog die Brauen zusammen und sah Mwen Mass aufmerksam an.
„Und Sie wollen nicht von Ihren Sternen lassen?“
„Wie auch immer der Beschluß des Rates ausfallen mag, ich werde beim Kosmos bleiben. Doch zuerst schreibe ich über…“
„… die Sterne der menschlichen Seele?“
„Ganz recht, Tschara! Sind Sie damit nicht einverstanden?“
„Natürlich bin ich einverstanden! Ich mußte nur an Ihr Experiment denken. Eine leidenschaftliche Ungeduld hat Sie dazu getrieben; Sie wollten den Menschen die Welt vollständig schenken. In dem Fall sind auch Sie ein Künstler und kein Wissenschaftler.“
„Und Ren Boos?“
„Für ihn ist ein Versuch jeweils die nächste Etappe seiner Forschungen.“
„Sie rechtfertigen mein Verhalten, Tschara?“
„Völlig! Und ich bin überzeugt, außer mir noch viele andere.“
Mwen Mass nahm die Zügel in die linke Hand und streckte die rechte Tschara hin. Sie hatten die kleine Siedlung der Station erreicht.
Gleichmäßig schlug die Brandung des Indischen Ozeans gegen das Steilufer. Aus dem Tosen glaubte Mwen Mass das rhythmische Andante von Sig Sors Sinfonie über die höchste organisierte Form der Materie im Kosmos herauszuhören. Der machtvolle Ton, der Grundton der irdischen Natur, das blaue f, schwoll an über dem Meer und zwang den Menschen, Antwort zu geben, eins zu werden mit der Natur, die ihn hervorgebracht hatte.
Das Erstaunlichste in der Menschheitsgeschichte ist der unauslöschliche Haß gegen Wissen und Schönheit, den alle Ungebildeten in sich tragen. Mißtrauen, Furcht und Haß finden sich in allen Gesellschaftsordnungen, angefangen bei der Angst vor Zauberern und Hexen in der Urgesellschaft bis zu der Vernichtung der ihrer Zeit vorauseilenden Denker in der Ära der Partikularistischen Welt. Nicht anders war es auf den Planeten mit hochentwickelten Zivilisationen, wo die Willkür kleinerer Gruppen nicht ausgeschaltet werden konnte, wo Oligarchien unterschiedlichster Formen entstanden. Mwen Mass erinnerte sich an eine Meldung des Großen Rings von bewohnten Welten. Dort wurden die Errungenschaften der Wissenschaft mißbraucht zur Einschüchterung und Folterung, zum Gedankenlesen und zur Verwandlung der Menschen in gefügige Automaten, die selbst die ungeheuerlichsten Befehle ausführten. Der Hilferuf solch eines Planeten hatte den Großen Ring erreicht, viele hundert. Jahre nachdem die Unterdrückten, die ihn aussandten, und ihre grausamen Beherrscher gestorben waren.
Die Erde hat bereits ein solches Entwicklungsstadium erreicht, daß derartige Grausamkeiten für alle Zeiten unmöglich sind.
Trotzdem ist der geistige Entwicklungsstand des Menschen, um den Persönlichkeiten wie Ewda Nal unermüdlich besorgt sind, immer noch ungenügend.
„Kart San hat gesagt, Weisheit sei eine Mischung aus Wissen und Gefühl. Werden wir weise!“ ertönte hinter Mwen Mass die Stimme Tscharas.
Und an dem Afrikaner vorbei sprang sie hinab in die tosende Tiefe. Sie machte in der Luft einen Salto, breitete die Arme aus und tauchte in die Wellen. Die Jungen des Schädlingsbekämpfungstrupps, die im Meer badeten, starrten wie gebannt auf das Mädchen. Schreck und Begeisterung jagten Mwen Mass einen Kälteschauer über den Rücken. Noch nie war er aus so großer Höhe gesprungen, doch furchtlos trat er an den Rand des Steilufers und warf seine Kleidung ab.
Das Mädchen rief ihm etwas zu, aber Mwen Mass stürzte bereits in die Tiefe und hörte nichts mehr. Der Flug erschien ihm herrlich und unendlich. Er tauchte vorbildlich ins Wasser ein, schoß nach wenigen Sekunden wieder an die Oberfläche, legte sich auf den Rücken und ließ sich von den Wellen treiben. Während er sich noch von dem Sprung erholte, sah er Tschara Nandi heranschwimmen. Angst hatte die leuchtende Bronzefarbe ihrer Haut in Blässe verwandelt; Vorwurf und Bewunderung sprachen aus ihrem Blick.
„Warum haben Sie das getan?“ flüsterte sie.
„Weil Sie es auch getan haben. Ich folge Ihnen überallhin.“
„Sie kehren also auch mit mir in die Große Welt zurück?“
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