„Ja!“
Mit einer jähen Wendung schwamm Mwen Maas auf Tschara zu, flüsterte zärtlich ihren Namen. Ein leidenschaftlicher Blick gab ihm Antwort, und ihre Lippen fanden sich.
Ebenso wie der Wirtschaftsrat, das Gehirn des Planeten, besaß auch der Rat für Astronautik ein besonderes Gebäude für wissenschaftliche Konferenzen. Die Räume waren so eingerichtet und ausgestaltet, daß sie es den Versammelten erleichterten, von irdischen auf kosmische Probleme umzuschalten.
Tschara Nandi war noch nie im Hauptsaal gewesen. Aufgeregt betrat sie mit Ewda Nal diesen seltsamen ovalen Raum mit der gewölbten Decke und den ellipsenförmig angeordneten Sitzreihen. Der ganze Raum war in rosigviolettes Licht getaucht, das von einem anderen Stern zu stammen schien. Alle Linien der Wände, der Decke und der Sitzreihen liefen in einem Punkt am Ende des Saales zusammen und bildeten gleichsam den Scheitelpunkt. Dort befanden sich etwas erhöht die Bildschirme, die Tribüne und die Plätze für die Mitglieder des Rates, die abwechselnd die Versammlung leiteten.
Die mattgoldene Täfelung der Wände wurde von Reliefkarten unterbrochen. Auf der einen Seite stellten sie Planeten des irdischen Sonnensystems dar, auf der anderen Seite bereits erforschte der nächst gelegenen Sterne. Unterhalb der hellblauen Decke zog sich eine zweite Reihe entlang, auf der in leuchtenden Farben Schemata bewohnter Sternsysteme abgebildet waren, die der Rat von den Nachbarn im Großen Ring erhalten hatte.
Ein altertümliches, vergilbtes und offensichtlich des öfteren restauriertes Gemälde über der Tribüne fesselte Tscharas Aufmerksamkeit. Ein schwarzvioletter Himmel nahm den ganzen oberen Teil des Bildes ein. Die kleine Sichel eines fremden Mondes warf ein fahles Licht auf das gespenstisch aufragende Heck eines alten Sternschiffes. Reihen häßlicher blauer Pflanzen, so trocken und hart, als wären sie aus Metall, verloren sich in der Ferne. Über den Sand schleppte sich ein Mann in leichtem Schutzanzug. Er blickte auf das zerschellte Schiff und auf seine toten Gefährten am Boden. In dem Glas seines Schutzhelms spiegelte sich der letzte Schein der Abendröte. Hervorragend war es dem Künstler gelungen, Verzweiflung und Einsamkeit in einer fremden Welt darzustellen. Auf einem niedrigen Hügel zur Rechten kroch etwas Unförmiges, Widerwärtiges durch den Sand. Die Bildunterschrift „Allein übriggeblieben“ war kurz und prägnant.
Von dem Bild ganz gefesselt, bemerkte das Mädchen nicht sofort die kunstvolle architektonische Gestaltung des Saales: Die Anordnung der Sitze war fächerförmig, in parallelen ansteigenden Reihen, so daß von verdeckten Zwischenreihen zu jedem einzelnen Platz Zugang war. Jede Reihe war isoliert von der benachbarten, der oberen oder der unteren. Nachdem Tschara neben Ewda Platz genommen hatte, betrachtete sie die altertümlichen Verzierungen an den Sesseln, Pulten und Barrieren, die aus echtem perlmuttgrauem afrikanischem Holz gefertigt waren. Heutzutage würde niemand mehr soviel Arbeit aufwenden für etwas, was innerhalb von wenigen Minuten gegossen und poliert werden konnte. Doch Tschara erschien das Holz wärmer und lebendiger als der Kunststoff — vielleicht aus Ehrfurcht vor dem Alten, die jedem Menschen eigen ist. Sie strich mit der Hand über die geschwungene Sessellehne, während sie ihre Augen durch den Saal schweifen ließ.
Wie immer waren viele Menschen versammelt, obgleich starke Fernsehsender die Sitzung auf dem ganzen Planeten ausstrahlten. Mir Om, der Sekretär des Rates, gab wie üblich einen kurzen Bericht über die Mitteilungen, die seit der letzten Ratssitzung eingegangen waren. Von den vielen hundert Menschen im Saal war nicht ein einziger unaufmerksam. Doch Tschara verpaßte die erste Mitteilung, denn sie war damit beschäftigt, die Aussprüche berühmter Wissenschaftler unter den Planetenkarten zu lesen. Besonders gefiel ihr der Aufruf unter der Jupiterkarte: „Habt einen Blick für die unverständlichen Dinge, die uns umgeben. Sie drängen sich Auge und Ohr geradezu auf, wir aber hören und sehen nicht, welche großen Entdeckungen hinter ihren verschwommenen Konturen verborgen sind.“ An einer anderen Stelle hieß es: „Es ist nicht einfach, den Vorhang vor dem Unbekannten zu lüften — erst nach unendlichen Mühen, Abweichungen und Irrwegen beginnen wir, den wahren Sinn zu erkennen, und neue, ungeahnte Perspektiven eröffnen sich uns. Weicht niemals Dingen aus, die zu Anfang nutzlos und unerklärlich erscheinen.“
Eine Bewegung auf der Tribüne, und im Saal erlosch das Licht. Die ruhige, kräftige Stimme des Sekretärs zitterte vor Erregung.
„Jetzt werden Sie etwas sehen, was noch unlängst völlig unmöglich erschien: eine Aufnahme unseres Milchstraßensystems von der Seite. Vor über 150000 Jahren oder anderthalb galaktischen Minuten haben sich die Bewohner des Planetensystems…“ — es folgten mehrere Zahlen, die Tschara nicht behielt, da sie ihr nichts sagten — „… im Sternbild Centaurus an Bewohner der Großen Magellanschen Wolke gewandt. Sie ist das einzige extragalaktische Sternsystem in unserer Nähe, auf dem es unseres Wissens denkende Wesen gibt, die imstande sind, sich über den Großen Ring mit unserer Galaxis in Verbindung zu setzen. Noch haben wir nicht exakt bestimmen können, wo dieses Magellansche Planetensystem liegt, seine Sendung aber — eine Aufnahme von unserer Galaxis — haben wir empfangen. Hier ist sie!“
Auf dem riesigen Bildschirm leuchtete, in silbriges Licht gehüllt, ein länglicher Sternhaufen, der sich zu den Enden hin verjüngte. Rund um das Planetensystem war nachtschwarze Finsternis. Die gleiche schwarze Leere gähnte zwischen den Spiralarmen. Ein bleiches Leuchten lag über dem Ring der Kugelsternhaufen. Flache Sternfelder wechselten mit Wolken und Streifen erkalteter schwarzer Materie. Die Aufnahme unseres Milchstraßensystems war von einem ungünstigen Standort aus gemacht worden: Sein zentraler Kern ragte als gewölbte leuchtende Masse nur wenig über die schmale Linse. Um eine richtige Vorstellung von unserem Sternsystem zu erhalten, hätte man es von entfernteren Galaxien aufnehmen müssen, die auf einer höheren galaktischen Breite lagen. Aber seit Bestehen des Großen Rings gab es keine Anzeichen, daß noch auf einer anderen Galaxis vernunftbegabte Wesen lebten.
Wie gebannt starrten die Menschen auf den Bildschirm, zum erstenmal konnten sie ihre Sternenwelt als Außenstehende, gleichsam aus dem Weltraum, betrachten.
„Damit sind die Nachrichten beendet, die unser Observatorium über den Großen Ring erhielt. Sie wurden dem Weltinformationsdienst noch nicht zugeleitet.“ Der Sekretär hatte wieder das Wort ergriffen. „Und nun kommen wir zu den Projekten, die auf breiter Basis erörtert werden sollen.
Juta Gai hatte vorgeschlagen, auf dem Mars eine künstliche, zur Atmung geeignete Atmosphäre zu schaffen, indem man leichte Gase aus Tiefengesteinen ausscheidet. Sein Projekt wurde als erfolgversprechend anerkannt, da es auf genauen Berechnungen basiert. Die Menschen unserer Marssiedlungen werden dadurch ausreichend mit Luft zur Atmung und Wärmeisolierung versorgt sein, so daß sie die Treibhausanlagen verlassen können. Vor vielen Jahren, nach der Entdeckung von Erdölozeanen und Bergen aus festen Kohlenwasserstoffen auf der Venus, wurde automatisch eine künstliche Atmosphäre unter gigantischen Glocken aus durchsichtigen Plasten geschaffen. So konnte man dort Pflanzen züchten und Fabriken errichten, die die Menschheit mit allen möglichen Erzeugnissen der organischen Chemie in gewaltigen Mengen versorgen.“
Der Sekretär legte eine Metallfolie zur Seite und lächelte freundlich. An den Sitzreihen nahe der Tribüne erschien Mwen Mass in dunkelroter Kleidung, gesammelt, feierlich, ruhig. Er hob die gefalteten Hände über den Kopf als Zeichen seiner Hochachtung vor den Versammelten und setzte sich.
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