Bei Sonnenaufgang wurde Mwen Mass von einem anderen Hirten abgelöst. Der Afrikaner machte sich für zwei Tage frei, um sich aus einer nahe gelegenen kleinen Stadt einen Umhang zu holen, denn die Nächte in den Bergen wurden zunehmend kühler.
Heiß und still war es, als Mwen Mass in die weite Ebene kam. Ein Meer von blaßlila und goldgelben Blumen wogte um ihn herum, bunte Insekten flogen darüber hin. Sanft berührten die Blüten seine Knie. Mwen Mass blieb stehen, bezaubert von der Schönheit und dem betäubenden Duft dieses wildwachsenden Gartens. Versonnen bückte er sich und strich mit den Händen über die Blüten.
Plötzlich drang gedämpft ein Geräusch an sein Ohr. Als er den Kopf hob, sah er ein Mädchen durch die Blumen eilen. Wenige Meter vor ihm bog sie zur Seite ab. Mwen Mass betrachtete versonnen ihre schlanke Gestalt. Schmerz durchzuckte ihn — wenn dieses Mädchen Tschara wäre, wenn…
Das geschulte Auge des Wissenschaftlers nahm wahr, daß das Mädchen Angst hatte. Sie sah sich des öfteren um und beschleunigte ihre Schritte, als liefe sie vor etwas davon. Mwen Mass richtete sich auf und eilte auf das Mädchen zu.
Die Unbekannte blieb stehen. Ein buntes Tuch war über Kreuz um ihren Oberkörper gewickelt, der rote Rock endete eine Handbreit unter dem Knie. Die dünnen Armreifen an ihren nackten Armen klirrten laut, wenn sie sich das windzerzauste dunkle Haar aus dem Gesicht strich. Die kurzen Locken hingen unordentlich in die Stirn. Traurig schaute sie Mwen Mass an; ihr Atem ging stoßweise. Auf ihrem hübschen dunkelhäutigen Gesicht standen kleine Schweißtropfen. Unsicheren Schritts ging sie auf den Afrikaner zu.
„Wer sind Sie, und wohin wollen Sie so eilig?“ erkundigte sich Mwen Mass. „Brauchen Sie vielleicht Hilfe?“
Das Mädchen musterte ihn aufmerksam und sagte, noch ganz außer Atem: „Ich bin Onar aus der fünften Siedlung. Nein, ich brauche keine Hilfe.“
„Das kann ich Ihnen nicht glauben, Sie sehen so erschöpft aus. Wovor haben Sie Angst? Warum lehnen Sie meine Hilfe ab?“
Das unbekannte Mädchen schaute ihn forschend an.
„Ich weiß, wer Sie sind. Ein großer Mann, von dort“, sie zeigte in die Richtung, in der man Afrika vermuten konnte. „Sie sind gut, und zu Ihnen kann man Vertrauen haben.“
„Warum haben Sie es dann nicht? Sie werden von jemand verfolgt?“
„Ja!“ stieß sie verzweifelt hervor. „Er ist hinter mir her.“
„Wer? Wie kann es jemand wagen, Sie zu verfolgen und Ihnen Angst einzuflößen?“
Das Mädchen wurde rot und schlug die Augen nieder.
„Ein Mann. Er will, daß ich seine…“
„Aber Sie können doch frei wählen und selbst bestimmen, ob Sie ihn wollen oder nicht! Wie kann man jemand zur Liebe zwingen? Wenn er hierherkommt, werde ich ihm sagen…“
„Nein, bitte nicht! Er ist ebenfalls aus der Großen Welt gekommen, aber schon vor langer Zeit. Auch er ist mächtig, doch nicht so wie Sie. Er kann furchtbar sein!“
Mwen Mass lachte unbekümmert.
„Wohin wollen Sie?“
„In die fünfte Siedlung. Ich war in der Stadt, und auf dem Rückweg begegnete mir…“
Mwen Mass nickte und nahm das Mädchen bei der Hand. Sie schlugen einen Seitenpfad ein, der zur Siedlung führte.
Hin und wieder sah, sich Onar ängstlich um und erzählte Mwen Mass, daß ihr der Mann überall nachstelle.
Der Afrikaner war empört über diese Einschüchterungsversuche.
„Warum unternehmen Ihre Leute nichts dagegen?“ fragte er. „Weiß die Ehren- und Rechtskontrolle davon? Lehrt man denn an Ihren Schulen nicht Geschichte, ist nicht bekannt, wohin Gewalttätigkeit führen kann?“
„Doch, man lehrt es. Und wir wissen es auch“, antwortete Onar, vor sich hin starrend.
Der Pfad machte eine scharfe Biegung und verlor sich im Gestrüpp. Hinter der Biegung tauchte ein großer, finsterer Mann auf. Er war nackt bis zum Gürtel, graues Haar bedeckte seine athletische Brust. Das Mädchen riß sich von Mwen Mass’ Hand los und flüsterte: „Ich habe Angst um Sie. Gehen Sie fort, Mann aus der Großen Welt!“
„Halt, stehenbleiben!“ dröhnte eine gebieterische Stimme.
In einem so rauhen Ton sprach niemand mehr in der Epoche des Großen Rings. Instinktiv stellte sich Mwen Mass schützend vor das Mädchen.
Der Fremde kam näher und versuchte, ihn wegzustoßen, doch Mwen Mass blieb stehen, ohne zu wanken.
Da traf ihn ein Fausthieb ins Gesicht. Mwen Mass taumelte. Noch nie in seinem Leben hatte er einen so harten Schlag hinnehmen müssen, der nicht nur Schmerz hervorrief, sondern auch demütigte.
Benommen hörte Mwen Mass Onar aufschreien. Er stürzte sich auf den Gegner, doch zwei betäubende Faustschläge streckten ihn zu Boden. Onar warf sich über ihn, um ihn mit ihrem Körper zu decken, aber der Fremde packte sie und drehte ihr die Arme auf den Rücken, daß sie vor Schmerz und Zorn in Tränen ausbrach.
Mwen Mass war wieder zu sich gekommen. In der Jugend, bei seinen Herkulestaten, hatte er weit schwierigere Kämpfe zu bestehen gehabt, und ihm fielen plötzlich alle Einzelheiten wieder ein, die man ihn für den Nahkampf mit Raubtieren gelehrt hatte.
Langsam erhob er sich und fixierte das wutverzerrte Gesicht des Gegners, um den Zielpunkt für den vernichtenden Schlag auszumachen. Plötzlich wich er zurück. Dieses energische Gesicht hatte ihn die ganze Zeit über verfolgt, als er vor dem Experiment ständig von Zweifeln gequält wurde.
„Bet Lon!“
Der andere ließ das Mädchen los und starrte den dunkelhäutigen Mann an, der jetzt alles andere als gutmütig aussah.
„Bet Lon, oft habe ich an eine Begegnung mit Ihnen gedacht, da ich Sie für einen Gefährten im Unglück hielt“, rief Mwen Mass, „doch so habe ich Sie mir nie vorgestellt!“
„Wie denn?“ fragte Bet Lon herausfordernd.
Der Afrikaner winkte ungeduldig ab.
„Wozu die leeren Worte? In der Großen Welt haben Sie gehandelt, statt zu reden, vielleicht verbrecherisch, jedoch um einer großen Idee willen. Wer aber gibt Ihnen hier das Recht?“
„Ich allein, ich nehme es mir!“ zischte Bet Lon verächtlich. „Mein Leben lang habe ich genügend Rücksicht auf andere, auf das allgemeine Wohl genommen. Jetzt habe ich begriffen, daß der Mensch das nicht braucht.“
„Sie haben nie an andere gedacht, Bet Lon“, fiel ihm der Afrikaner ins Wort. „In allem haben Sie sich nachgegeben, bis Sie zu dem wurden, was Sie heute sind, ein Gewaltmensch, ja fast ein Tier!“
Es schien, als wollte sich der Mathematiker auf Mwen Mass stürzen, doch er beherrschte sich.
„Genug jetzt, Sie reden mir zuviel!“
„Ich sehe, daß Sie viel verloren haben, und will…“
„Aber ich will nicht! Gehen Sie mir aus dem Weg!“
Mwen Mass rührte sich nicht. Drohend stand er vor Bet Lon. Zitternd drängte sich das Mädchen an ihn. Und dieses Zittern erbitterte ihn weit mehr als Bet Lons Fausthiebe.
Unbeweglich sah der Mathematiker in die zornfunkelnden Augen des Afrikaners.
„Gehen Sie!“ sagte er und gab den Weg frei.
Mwen Mass nahm Onar an die Hand und führte sie zwischen den Sträuchern hindurch. Er fühlte Bet Lons haßerfüllten Blick. An der Wegbiegung blieb er so ruckartig stehen, daß Onar gegen ihn prallte.
„Bet Lon, lassen Sie uns gemeinsam in die Große Welt zurückkehren!“
Der Mathematiker lachte höhnisch, doch Mwen Mass’ feines Ohr vernahm die Bitterkeit in diesem Lachen.
„Wer sind Sie, daß Sie mir so etwas vorschlagen? Wissen Sie, was Sie sind?“
„Ich habe ebenfalls einen verbotenen Versuch durchgeführt und Menschen, die mir anvertraut waren, umgebracht. In der Forschung bin ich ähnliche Wege gegangen wie Sie. Sie, ich und die anderen sind dem Sieg bereits nahe! Die Menschen brauchen Sie!“
Den Blick zu Boden gerichtet, ging der Mathematiker auf Mwen Mass zu, doch plötzlich drehte er sich um und entfernte sich, unflätig schimpfend. Mwen Mass und das Mädchen gingen wortlos weiter.
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