„Wissen Sie vielleicht, was für eine dritte Operation Ren bevorsteht?“ Ewda gab dem Gespräch eine Wendung.
Mwen Mass überlegte eine Weile, um sich an die Unterhaltung mit dem Chirurgen zu erinnern.
„Aph Nut will sich zunutze machen, daß der Körper Ren Boos’ geöffnet ist, und den Organismus von der angesammelten Entropie befreien. Was die physiochemische Therapie nur langsam und mit Schwierigkeiten zustande bringt, kann bei solch einer Operation schneller und gründlicher erreicht werden.“
Ewda Nal rief sich alles ins Gedächtnis zurück, was sie über die Voraussetzung für ein hohes Lebensalter wußte — die Säuberung des Organismus von der Entropie. Die fisch- und lurchartigen Vorfahren hinterließen im menschlichen Organismus Schichtungen gegensätzlicher physiologischer Strukturen, von denen jede ihre Besonderheiten bei der Bildung entropischer Rückstände der Lebenstätigkeit hatte. Diese alten, jahrtausendelang studierten Strukturen, einst Quelle des Alterns und vieler Krankheiten, ließen sich neuerdings energisch reinigen: durch chemische Säuberung, Bestrahlung und Wellenbehandlung des alternden Organismus.
In der Natur wirkt der zunehmenden Entropie entgegen, daß die Lebewesen aus der Paarung verschiedener Individuen hervorgehen, die aus verschiedenen Gegenden stammen und damit unterschiedlicher genealogischer Herkunft sind. Diese Mischung der Erbanlagen als Mittel im Kampf gegen die Entropie und das Schöpfen neuer Kräfte aus verschiedenem Milieu gaben der Wissenschaft das größte Rätsel auf, an dessen Lösung Biologen, Physiker, Paläontologen und Mathematiker seit Jahrtausenden arbeiteten. Doch es hatte sich gelohnt: Die maximale Lebenserwartung hatte fast zweihundert Jahre erreicht, und was die Hauptsache war, man hatte die zermürbende Gebrechlichkeit im Alter beseitigt.
Mwen Mass erriet die Gedanken seiner Begleiterin.
„Ich habe über den neuen großen Widerspruch in unserem Leben nachgedacht“ sagte er bedächtig. „Einerseits die hochentwickelte biologische Medizin, die dem Organismus neue Kräfte verleiht, andererseits die ständig zunehmende schöpferische Arbeit des Gehirns, die den Menschen rasch verbraucht. Wie kompliziert sind doch die Gesetze unserer Welt!“
„Das stimmt, und deshalb zögern wir die Entwicklung des dritten Signalsystems des Menschen einstweilen auch noch hinaus“, pflichtete Ewda Nal ihm bei. „Das Gedankenlesen erleichtert zwar die Verständigung der Individuen untereinander, bringt jedoch einen großen Kräfteverschleiß mit sich und schwächt die Hemmungszentren. Letzteres ist außerordentlich gefährlich.“
„Die Mehrzahl der Menschen arbeitet unermüdlich und lebt wegen der außerordentlichen Nervenanspannung nur halb so lange, wie sie leben könnte. Soviel ich davon verstehe, kann die Medizin nichts dagegen tun, es sei denn, sie verbietet die Arbeit. Aber wer wird schon die Arbeit um zusätzlicher Lebensjahre willen aufgeben?“
„Niemand, denn der Tod ist nur dann furchtbar, nur dann klammert man sich an das Leben, wenn man es untätig verbracht hat“, sagte Ewda Nal nachdenklich. Sie fragte sich unwillkürlich, ob die Menschen auf der Insel des Vergessens länger lebten.
Mwen Mass schlug vor, zum Observatorium zurückzukehren und sich auszuruhen, und Ewda war einverstanden.
Zwei Monate später traf Ewda Nal Tschara Nandi im Saal des Informationspalastes, der mit seinen hohen Pfeilern einer gotischen Kirche glich. Die schräg einfallenden Sonnenstrahlen beleuchteten nur den oberen Teil, der untere war in Dämmerung gehüllt.
Das Mädchen stand an eine Säule gelehnt, die Hände auf dem Rücken verschränkt, die Beine gekreuzt. Wie immer erregte ihre schlichte Kleidung Ewda Nals Bewunderung. Sie trug ein weit ausgeschnittenes kurzes graublaues Kleid.
Als sie Ewda erblickte, kam Leben in ihre traurigen Augen.
„Was machen Sie denn hier, Tschara? Ich dachte, Sie wollten uns bald wieder mit neuen Tänzen überraschen, und nun zieht es Sie zur Geographie!“
„Die Zeit der Tänze ist vorbei“, sagte Tschara ernst. „Ich suche eine mir vertraute Arbeit. In einem Werk für künstliche Ledererzeugung in den Binnenseen von Celebes und bei einer Station für die Züchtung lang blühender Pflanzen in der früheren Wüste Atacama sind Stellen frei. Die Arbeit im Atlantischen Ozean hat mir Spaß gemacht. So hell und klar war alles; ich habe mich damals so froh gefühlt.“
„Ich werde auch immer ganz melancholisch, wenn ich an meine Arbeit im psychologischen Sanatorium auf Neuseeland zurückdenke, wo ich als blutjunge Krankenschwester angefangen habe. Selbst Ren Boos sagt jetzt nach seiner furchtbaren Verletzung, als Regulierer von Flugschraubern sei er viel glücklicher gewesen. Das ist einfach ein Schwächezustand, Tschara, Ermüdung durch große Anspannung, um sich auf jener schöpferischen Höhe zu halten, wie Sie sie als wirkliche Künstlerin erreicht haben. Und die Ermüdung wird noch zunehmen, wenn Ihr Körper nicht mehr so elastisch und energiegeladen ist wie heute. Doch bis dahin sollten Sie uns durch Ihre Kunst und Schönheit Freude bereiten.“
„Sie wissen gar nicht, Ewda, wie mir zumute ist. Jede Einstudierung eines Tanzes ist ein freudiges Suchen. Ich möchte den Menschen etwas Schönes bieten, was ihnen Freude macht und an ihr Gefühl rührt. Dafür lebe ich. Dann kommt der Augenblick, da die Idee in die Wirklichkeit umgesetzt wird, und ich gebe mich ganz meiner Leidenschaft hin. Das überträgt sich sicherlich auf die Zuschauer, wenn mein Tanz eine so starke Wirkung auf sie ausübt. Ich möchte euch allen mein Letztes geben.“
„Ja, und da wollen Sie so plötzlich aufhören?“
„Aber ich schaffe doch nichts Bleibendes!“
„Was Sie den Menschen geben, ist weit mehr!“
„Das ist sehr wenig handgreiflich und kurzlebig — ich denke an mich selbst.“
„Haben Sie noch nie geliebt, Tschara?“
Das Mädchen senkte den Blick.
„Ist es ähnlich?“ antwortete sie mit einer Frage.
Ewda Nal schüttelte den Kopf.
„Ich meine jenes starke Gefühl, zu dem wohl Sie fähig sind, aber bei weitem nicht alle.“
„Ich verstehe: Bei der Begrenztheit meines Intellekts bleibt mir der Reichtum des Gefühlslebens.“
„Sie haben nicht ganz unrecht, doch würde ich es anders ausdrücken. Sie sind so reich an Emotionen, daß sich das auf die intellektuelle Sphäre überträgt, wenngleich sie auch nach dem Gesetz der Widersprüche schwächer entwickelt ist. Aber wir theoretisieren hier, und dabei muß ich mit Ihnen dringend über etwas sprechen, was mit unserem Gespräch unmittelbar zusammenhängt. Mwen Mass…“
Das Mädchen zuckte zusammen.
Ewda Nal hakte Tschara unter und führte sie in eine der großen Nischen des Saals.
„Mwen Mass… Sie wissen, wie es ihm ergangen ist?“
„Natürlich. Der ganze Planet verurteilt ja sein mißlungenes Experiment!“
„Und was meinen Sie dazu?“
„Daß er im Recht ist!“
„Ich auch. Deshalb muß man ihn von der Insel des Vergessens zurückholen. In einem Monat findet die Jahresversammlung des Rates für Astronautik statt. Dort wird über seine Schuld befunden. Das Ergebnis der Untersuchung wird an die Ehren- und Rechtskontrolle weitergeleitet, die dem Schicksal eines jeden nachgeht. Ich glaube sicher, daß das Urteil günstig ausfällt, aber dazu müßte Mwen Mass hier sein. Außerdem ist es nicht gut für einen so gefühlsbetonten Menschen wie Sie, lange auf der Insel zu bleiben, schon gar nicht in der Einsamkeit!“
„Glauben Sie, ich sei so altmodisch, daß ich mich den Interessen eines Mannes unterordne? Selbst wenn ich ihn sehr liebe, kann ich das nicht.“
„Mein liebes Kind, so dürfen Sie nicht reden. Ich habe Sie zusammen gesehen und weiß, daß Sie beide füreinander wie geschaffen sind. Verurteilen Sie ihn nicht, weil er Sie nicht aufgesucht hat, sich vor Ihnen versteckt hat. Begreifen Sie doch: Wie kann ein Mensch, der Ihnen ähnlich ist, als bedauernswerter, geschlagener Mann, dem Gericht und Verbannung drohen, vor Sie, die geliebte Frau, hintreten?“
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