„Die Spiralbewegung kannte man bereits vor tausend Jahren“, warf Mwen Mass vorsichtig ein.
Ren Boos winkte geringschätzig ab. „Die Bewegung, aber nicht ihre Gesetze! Also, wenn das Gravitationsfeld und das elektromagnetische Feld zwei Seiten ein und derselben Eigenschaft der Materie sind, wenn der Raum eine Funktion der Gravitation ist, dann ist die Funktion des elektromagnetischen Feldes der Antiraum, und der Übergang zwischen beiden ergibt die vektorielle Schattenfunktion des Nullraumes, der umgangssprachlich Lichtgeschwindigkeit genannt wird. Und ich halte es für möglich, den Nullraum in jeder Richtung zu erzeugen… Mwen Mass möchte zum Epsilon Tucanae; mir ist das gleich, wenn nur der Versuch durchgeführt wird. Wenn nur der Versuch unternommen wird!“ wiederholte der Physiker und schloß abgespannt die Augen.
„Für den Versuch brauchen Sie nicht allein die Außenstationen und die Erdenergie, sondern auch eine Anlage. Die wird wohl kaum so einfach und schnell zu beschaffen sein.“
„In der Beziehung haben wir Glück. Man kann die Kor-Yull-Anlage in unmittelbarer Nähe des tibetanischen Observatoriums verwenden. Dort wurden vor hundertsiebzig Jahren die Versuche zur Untersuchung des Raumes durchgeführt. Nur ein geringfügiger Umbau ist notwendig. Freiwillige Helfer dafür kann ich jederzeit fünf-, zehn- und auch zwanzigtausend bekommen. Ich brauche sie nur zu bestellen.“
„Sie haben wirklich an alles gedacht. Doch eins bleibt noch, das Wichtigste: die Gefährlichkeit des Versuchs. Es könnten sich unerwartete Resultate ergeben. Ein Probeversuch vorher aber ist unmöglich. Man muß sofort in einer außerirdischen Ausdehnung experimentieren.“
„Welcher Wissenschaftler schreckt vor dem Risiko zurück?“ Ren Boos zuckte mit den Schultern.
„Ich meine nicht das persönliche Risiko. Ich weiß, daß sich Tausende zur Verfügung stellen, wenn es das unbekannte gefährliche Unternehmen fordert. Doch in den Versuch werden die Außenstationen des Observatoriums eingeschaltet — all die Apparaturen, die der Menschheit gigantische Arbeit gekostet haben. Apparaturen, die das Geheimnis des Kosmos enträtselt, die der Menschheit Zugang zu anderen besiedelten Welten vermittelt haben. Das ist wohl die größte menschliche Errungenschaft, und haben Sie, ich, irgendeine Gruppe von Menschen das Recht, sie aufs Spiel zu setzen, und sei es auch nur zeitweilig?“
„Ich habe es“, Mwen Mass stand auf, „und es ist begründet. Sie waren bei den Ausgrabungen. Waren die Milliarden unbekannter Gebeine in unbekannten Gräbern nicht Mahnung für Sie? Ich sehe vor mir Milliarden Menschen, deren Jugend, Schönheit und Lebensfreude im Nu zerronnen war wie Sand zwischen den Fingern. Sie fordern, das große Rätsel ›Zeit‹ zu lösen, den Kampf aufzunehmen. Ein Sieg über den Raum ist auch ein Sieg über die Zeit — deshalb bin ich von der Richtigkeit und der Bedeutung des geplanten Experiments überzeugt!“
„Mich bewegt etwas anderes“, begann Ren Boos. „Eigentlich nur eine andere Seite ein und derselben Sache. Wie früher ist der Raum im Kosmos unbezwingbar. Er trennt die Welten, trennt uns von Planeten, die, weil sie bevölkert, uns nahestehen, mit denen wir uns aber noch nicht zu einer großen Familie vereinen können. Das wäre die größte Umwälzung nach der Ära der Wiedervereinigten Welt. Damals hat die Menschheit der Erde mit dem unsinnigen Separatismus ihrer Völker endlich Schluß gemacht, und sie haben sich vereinigt; sie hat eine höhere Stufe der Macht über die Natur erreicht. Seitdem ist jeder Schritt auf diesem neuen Weg wichtiger als alles andere, als alle Untersuchungen und Erkenntnisse.“
Kaum war Ren Boos verstummt, da begann Mwen Mass wieder zu sprechen.
„Da ist noch etwas anderes, ein persönliches Erlebnis. In jungen Jahren ist mir einmal ein historischer Roman in die Hände gefallen. Von Ihren Vorfahren war darin die Rede, Dar Weter, von einem mächtigen Eroberer, der in ein fremdes Land einfiel. Der Roman erzählte von einem kühnen Jüngling, der ein junges Mädchen über alle Maßen liebte. Das Mädchen geriet in Gefangenschaft und wurde fortgeschleppt. Niemand wußte wohin. Der junge Held machte sich auf die Suche nach seinem Traum und wanderte jahrelang auf gefährlichen Wegen und halsbrecherischen Bergpfaden durch ganz Asien. Die Empfindungen des Jünglings sind schwer wiederzugeben, aber ich glaube, auch ich könnte heute trotz aller Hindernisse des Kosmos meinem großen Ziel zustreben.“
Dar Weter lächelte matt.
„Ich verstehe Ihre Gefühle, aber ich sehe keinen logischen Zusammenhang zwischen dem russischen Roman und Ihren kosmischen Plänen. Da sind mir Ren Boos’ Gedankengänge verständlicher. Doch wie Sie schon sagten, es handelt sich ja um ein rein persönliches Erlebnis.“
Dar Weter verstummte. Er schwieg so lange, daß Mwen Mass unruhig wurde.
„Jetzt verstehe ich auch“, fuhr Dar Weter endlich fort, „warum die Menschen früher bei Unsicherheit, Sorgen und Einsamkeit zu Nikotin, Alkohol und anderen Narkotika griffen. Sie wollten sich aufmuntern. Auch ich bin unsicher geworden. — Was soll ich Ihnen sagen? Wer bin ich schon, daß ich Ihnen diesen großartigen Versuch verbieten oder erlauben könnte? Sie müssen sich an den Rat wenden, dann…“
„Nein, so nicht.“ Mwen Mass stand vor Dar Weter, sein hünenhafter Körper zitterte vor Anspannung. „Antworten Sie uns: Würden Sie dieses Experiment durchführen? Als Leiter der Außenstation!“
„Nein!“ antwortete Dar Weter fest. „Ich würde noch warten.“
„Worauf?“
„Bis eine Versuchsanlage auf dem Mond gebaut ist.“
„Und die Energie?“
„Das Gravitationsfeld des Mondes ist kleiner. Man könnte mit einigen Q-Stationen auskommen.“
„Ein Jahrhundert würde dabei vergehen, und ich würde den Versuch niemals erleben.“
„Sie nicht. Doch für die Menschheit ist es nicht so wichtig, ob jetzt oder eine Generation später!“
„Aber für mich wäre es das Ende! Das Ende meines Traumes. Und für Ren…“
„Ich hätte keine Möglichkeit, durch einen Versuch alles zu überprüfen, folglich könnte ich auch nicht die Arbeit korrigieren und fortsetzen!“
„Ich sagte Ihnen schon: Wenden Sie sich an den Rat!“
„Der Rat hat bereits entschieden — durch Ihre Überlegungen und Worte. Wir haben von ihm nichts anderes zu erwarten“, erwiderte Mwen Mass leise.
„Sie haben recht. Der Rat wird auch ablehnen.“
„Ich will Sie nicht weiter fragen. Ich fühle mich schuldig: Ren Boos und ich haben Ihnen die schwere Bürde einer Entscheidung auferlegt.“
„Da ich die größere Erfahrung habe, ist es meine Pflicht, zu helfen. Es ist nicht unsere Schuld, wenn sich das Problem als zu kompliziert erwiesen hat.“
Ren Boos schlug als erster vor, in die provisorische Siedlung der Expedition zurückzukehren. Niedergeschlagen stapften die drei durch den Sand; jeder empfand auf seine Weise, wie bitter es war, auf das grandiose Experiment verzichten zu müssen.
Die Legende von der blauen Sonne
Aus der Krankenkabine kamen die Ärztin Luma Laswi und der Biologe Eon Tal. Erg Noor stürzte auf sie zu.
„Was ist mit Nisa?“
„Sie lebt, aber…“
„Wird sie sterben?“
„Vorläufig nicht. Ihr ganzer Körper ist gelähmt. Alle Rückenmarkstämme, das parasympathische System, die Assoziations- und die Sinneszentren sind in Mitleidenschaft gezogen. Die Atmung ist außerordentlich verlangsamt. Das Herz arbeitet, in hundert Sekunden ein Pulsschlag. Ein völliger Kollaps, der unbestimmte Zeit dauern kann.“
„Bewußtsein und Schmerzempfindung sind ausgeschaltet?“
„Ja.“
Erg Noor blickte fragend zum Biologen. Der nickte bestätigend.
„Was gedenken Sie zu tun?“
„In gleichbleibender Temperatur und absoluter Ruhe halten. Falls der Kollaps sich nicht ausdehnt, muß — einerlei wie — der Schlafzustand bis zur Erde aufrechterhalten werden. Dort könnte das ›Institut für Nervenströme‹ Rettung bringen. Die Verletzung wurde durch eine Art Strom hervorgerufen; der Skaphander war an drei Stellen durchschlagen. Nur gut, daß sie kaum geatmet hat!“
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