Die dunklen Felsen unter Wasser bildeten einen gigantischen Spitzbogen, unter dem eine riesige Pferdestatue stand. Keine einzige Alge oder Muschel haftete an der glattpolierten Oberfläche der Statue. Der unbekannte Bildhauer hatte vor allem die Kraft des Tieres zum Ausdruck bringen wollen. Der vordere Teil des Rumpfes war stark vergrößert, die Brust übermäßig verbreitert und der vorgereckte Hals langgezogen. Das linke Vorderbein war angehoben, sein mächtiger Huf drohend auf die Brust des Betrachters gerichtet. Die Mähne war durch eine gezackte Kurve angedeutet, der Kopf bohrte sich fast in den Bug, die Augen unter der gesenkten Stirn hatten etwas Unheimliches, und auch die angelegten kleinen Ohren unterstrichen den bösartigen Ausdruck des steinernen Ungeheuers.
Nachdem Miiko nach Dar Weter gesehen hatte, der ausgestreckt auf dem flachen Felsvorsprung lag, tauchte sie nochmals. Schließlich war das Mädchen vom tiefen Tauchen erschöpft und hatte sich an ihrem Fund satt gesehen. Sie setzte sich neben Dar Weter und schwieg lange, bis sie wieder normal atmen konnte.
„Ich möchte wissen, wie alt diese Statue ist“, sagte Miiko nachdenklich.
Dar Weter zuckte mit den Achseln. Er erinnerte sich, was ihn am meisten verwundert hatte.
„Warum war an der Statue keine einzige Alge oder Muschel zu sehen?“
Ruckartig wandte sich ihm Miiko zu.
„Das ist nichts Neues. So etwas habe ich schon öfter gesehen. Die Fundstücke waren mit einer besonderen Schutzschicht überzogen; sie verhindert, daß Lebewesen anhaften. Danach zu urteilen, stammt diese Statue aus dem letzten Jahrhundert der Ära der Partikularistischen Welt.“
Im Meer tauchte ein Schwimmer auf. Er kam rasch näher, richtete sich etwas aus dem Wasser auf und winkte den beiden grüßend zu. Dar Weter erkannte die breiten Schultern und die glänzende dunkle Haut Mwen Mass’. Bald darauf zog er sich an dem Felsvorsprung hoch, auf seinem nassen Gesicht lag ein gutmütiges Lächeln. Er verbeugte sich knapp vor der zierlichen Miiko und begrüßte Dar Weter herzlich und unbefangen.
„Ich bin mit Ren Boos auf einen Tag hergekommen, um Ihren Rat zu erbitten.“
„Mit Ren Boos?“
„Dem Physiker von der ›Akademie der Grenzen des Wissens‹.“
„Ich kenne ihn flüchtig. Er arbeitet über die Probleme der Wechselbeziehungen zwischen Raum und Feld. Wo haben Sie ihn gelassen?“
„Am Ufer. Er schwimmt nicht so gut wie…“
Ein leises Aufklatschen unterbrach Mwen Mass.
„Ich schwimme ans Ufer zurück, zu Weda!“ rief ihnen Miiko aus dem Wasser zu.
Dar Weter sah dem Mädchen lächelnd nach.
„Sie hat eine Entdeckung gemacht“, erklärte er Mwen Mass und erzählte ihm von dem Unterwasserfund.
Der Afrikaner hörte ohne Interesse zu. Mit seinen langen Fingern strich er sich übers Kinn. In seinen Augen las Dar Weter Unruhe und Hoffnung.
„Sie haben doch etwas auf dem Herzen? Also, heraus mit der Sprache!“
Nur zu gern kam Mwen Mass der Aufforderung nach. Er hatte sich am Rand des Felsvorsprungs niedergelassen und sprach von seinen quälenden Gedanken. Sein Zusammentreffen mit Ren Boos war nicht zufällig. Die Vision von der herrlichen Welt des Sterns Epsilon Tucanae hatte ihn nicht wieder losgelassen. Seit jener Nacht träumte er davon, dieser Welt näher zu kommen, den unermeßlichen Raum zu überwinden, ganz gleich wie, damit zwischen Sendung und Empfang der Botschaft, des Signals oder des Bildes nicht mehr sechshundert Jahre lagen, die für ein Menschenleben unüberbrückbar waren. Mwen Mass hatte, sich ganz darauf konzentriert, die ungelösten Fragen und die noch unvollendeten Versuche kennenzulernen, die bereits seit einem Jahrtausend zur Erforschung des Raumes als Funktion der Materie angestellt wurden.
In der „Akademie der Grenzen des Wissens“ leitete Ren Boos, ein junger Mathematiker und Physiker, gleichgerichtete Forschungen. Seine Begegnung mit Mwen Mass und ihre beginnende Freundschaft resultierten aus ihrem gemeinsamen Ziel.
Nunmehr hielt Ren Boos das Problem für so weit gelöst, daß ein Experiment durchgeführt werden könnte. Wie alle Experimente mit kosmischer Ausdehnung konnte auch dieses nicht im Laboratorium vorgenommen werden. Ren Boos wollte den Versuch über die Außenstationen unter Verwendung der gesamten Erdenergie ausführen, einschließlich der Reservestation der Q-Energie in der Antarktis.
Dar Weter ahnte dunkel die drohende Gefahr, als er Mwen Mass’ funkelnde Augen und bebende Nasenflügel sah.
„Sie wollen wissen, wie ich in diesem Falle handeln würde?“ fragte er ruhig.
Mwen Mass nickte und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.
„Ich würde das Experiment nicht wagen“, sagte Dar Weter klar und deutlich. Die Enttäuschung, die sich für einen Moment auf dem Gesicht des Afrikaners widerspiegelte und einem weniger aufmerksamen Beobachter entgangen wäre, übersah Dar Weter.
„Das habe ich erwartet!“ brachte Mwen Mass mühsam hervor.
„Warum haben Sie mich dann um Rat gefragt?“
„Ich glaubte, wir könnten Sie überzeugen.“
„Na schön, versuchen Sie es mal! Schwimmen wir zurück. Unsere Freunde bereiten sicherlich schon die Tauchgeräte vor, um sich das Pferd anzusehen.“
Am Ufer sang Weda, begleitet von zwei Frauenstimmen, die Dar Weter nicht kannte. Als sie die Schwimmenden sah, rief sie sie winkend herbei. Das Lied verstummte. In einer der Frauen erkannte Dar Weter Ewda Nal. Zum erstenmal sah er sie ohne den weißen Arztkittel. Ihre hochgewachsene, geschmeidige Gestalt hob sich von den anderen beiden durch ihre noch ungebräunte Haut ab. Augenscheinlich war die berühmte Nervenärztin in letzter Zeit sehr beschäftigt gewesen. Das in der Mitte gescheitelte blauschwarze Haar trug sie an den Schläfen hochgesteckt. Die hervortretenden Backenknochen über den etwas eingefallenen Wangen unterstrichen noch den schrägen Schnitt der schwarzen Augen. Das Gesicht erinnerte an die berühmte ägyptische Sphinx, die einst am Rande einer Wüste stand. Heute, ein Jahrtausend später, waren an Stelle der Wüste blühende Haine getreten, und die Sphinx wurde von einer Glashaube geschützt, die die Sprünge ihres von der Zeit zerfurchten Antlitzes nicht verbarg.
Dar Weter erinnerte sich, daß Ewda Nals Vorfahren Peruaner oder Chilenen waren. Er begrüßte sie nach der Sitte der alten südamerikanischen Sonnenanbeter.
„Ich sehe, Ihre Arbeit bei den Historikern war von Nutzen“, sagte Ewda. „Sie sollten Weda dankbar sein.“
Dar Weter sah sich suchend nach der vertrauten Gestalt um, und Weda nahm ihn bei der Hand und stellte ihn der unbekannten Frau vor.
„Das ist Tschara Nandi. Wir alle hier sind eigentlich zu Gast bei ihr und dem Maler Kart San, denn sie leben schon einen Monat an dieser Küste. Ihr transportables Atelier steht am Ende der Bucht.“
Dar Weter streckte der jungen Frau, die ihn aus großen blauen Augen ansah, die Hand entgegen. Für einen Augenblick stockte ihm der Atem — diese Frau hatte etwas an sich, was sie von allen anderen unterschied. Sie stand zwischen Weda Kong und Ewda Nal, aber die durchgeistigte und strenge Schönheit der beiden Forscherinnen verblaßte vor der ungewöhnlichen Faszination der Unbekannten.
„Ihr Name hat eine gewisse Ähnlichkeit mit meinem“, sagte Dar Weter.
Die Mundwinkel der Unbekannten zuckten vor verhaltenem Spott.
„Ebenso wie Sie selbst eine gewisse Ähnlichkeit mit mir haben.“
Dar Weter blickte über den dichten, glänzenden Schopf ihres schwach gekräuselten schwarzen Haares hinweg und lächelte Weda zu.
„Dar, Sie verstehen es nicht, den Frauen Komplimente zu machen“, sagte Weda, den Kopf leicht zur Seite geneigt.
„Ist das denn heutzutage noch nötig, da wir uns gegenseitig nichts mehr vorzutäuschen brauchen?“
„Auch heute noch“, mischte sich Ewda Nal ein. „Und es wird immer nötig sein.“
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