„Dick…“
„Fünfzig Meter nordwestlich von der Stelle, an der ich stehe, befindet sich eine Flammengrube. Ich werde hingehen und mich hineinstürzen. Innerhalb von zehn Sekunden gibt es dann keinen Richard Muller mehr. Ein Unglück wird damit ein anderes austilgen, und die Erde wird nicht schlechter dran sein als vor dem Zeitpunkt, an dem ich meine Spezialfähigkeit erworben habe. Da ihr diese Fähigkeit vorher nicht zu würdigen gewußt habt, sehe ich keinen Grund, warum ich sie euch jetzt nutzbar machen sollte.“
„Wenn Sie sich unbedingt umbringen wollen“, sagte Boardman, „warum warten Sie dann nicht damit noch ein paar Monate?“
„Weil mir nichts daran liegt, jemandem einen Dienst zu erweisen.“
„Das ist kindisch. Eine Schwäche, die ich Ihnen nie zugetraut hätte.“
„Es war kindisch von mir, von den Sternen zu träumen“, sagte Muller. „Ich handele jetzt also nur konsequent. Die Extragalaktiker können Sie als Zwischenmahlzeit einnehmen, Charles, das würde mir nicht das geringste ausmachen. Würde es Ihnen nicht Spaß machen, einmal Sklave zu sein? Irgendwo, im hintersten Winkel Ihres Gehirns wären Sie immer noch Charles Boardman, würden nach Freiheit schreien, während gleichzeitig Radiowellen Ihnen sagen würden, welchen Arm Sie bewegen und welches Bein Sie heben sollen. Ich wünschte, ich könnte lange genug leben, um das mit eigenen Augen zu sehen. Aber ich werde mich nun in die Flammengrube stürzen. Möchten Sie mir Lebewohl sagen? Dann kommen Sie doch näher und umfassen Sie zum Gruß mein Handgelenk. Nehmen Sie noch eine ordentliche Dosis von mir mit. Es wird die letzte sein. Ich befreie Sie danach vom Ekel meiner Person.“ Muller zitterte. Auf seinem Gesicht rann der Schweiß in Strömen. Seine Oberlippe zuckte.
„Kommen Sie wenigstens mit mir in Zone F“, sagte Boardman. „Wir wollen uns dort in Ruhe zusammensetzen und bei einem Glas Brandy die ganze Sache besprechen.“
„Nebeneinander an einem Tisch?“ Muller lachte auf. „Sie würden sich sofort übergeben. Sie könnten es nicht ertragen.“
„Ich will mit Ihnen reden.“
„Ich nicht“, sagte Muller. Er trat schleppend einen Schritt nach Nordwesten vor. Seine große, kräftige Gestalt schien zusammengesunken und verbraucht zu sein. Nichts als straff gespannte Sehnen über einem nachgebenden Gerüst. Er machte noch einen Schritt. Boardman ließ ihn nicht aus den Augen. Ottavio und Davis standen zu seiner Linken. Reynolds und Greenfield auf der anderen Seite, zwischen Muller und der Flammengrube. Ned Rawlins stand allein abseits von den anderen, wirkte wie der letzte Fahrgast an einem vergessenen Bahnhof.
Boardman spürte ein Pochen im Kehlkopf, ein Prickeln und Spannen in den Lenden. Großer Überdruß machte sich in ihm breit und gleichzeitig eine brennende, bohrende Erregung, wie er sie seit seiner Jugend nicht mehr erlebt hatte. Er ließ zu, daß Muller einen dritten Schritt auf den Ort seiner Selbstvernichtung zu machte. Dann schnipste Boardman nur einmal kurz und lässig mit zwei Fingern.
Greenfield und Reynolds sprangen los.
Wie Raubkatzen jagten sie, die die ganze Zeit auf diesen Moment gewartet hatten, los und packten Muller an den Unterarmen. Boardman sah, wie ihre Gesichter grau anliefen, als Mullers Ausstrahlung sie traf. Muller wand sich, kämpfte, versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien. Mittlerweile waren Davis und Ottavio zu Hilfe gekommen. In der hereinbrechenden Nacht wirkten sie wie eine Laokoongruppe: Muller wurde halb von den kleineren Männern verdeckt, die sich um ihn wanden und ihn umschlossen, um seinen gespannten, kämpfenden Körper zu bändigen. Mit einem Betäubungsgewehr wäre es leichter gegangen, überlegte Boardman. Aber solche Waffen waren nicht frei von Tücken, besonders, wenn man sie gegen Menschen einsetzte. Herzversagen konnte die Folge sein. Leider hatten sie keinen Defibrillator dabei.
Einen Moment später war Muller auf die Knie gezwungen.
„Entwaffnet ihn“, sagte Boardman.
Während Ottavio und Davis ihn festhielten, wurde er von Reynolds und Greenfield untersucht. Aus einer Tasche zog Greenfield die tödliche kleine Kugel mit dem Fenster. „Das scheint alles zu sein, was er bei sich hat“, erklärte Greenfield.
„Sucht lieber genauer.“
Sie klopften ihn von oben bis unten ab. Muller rührte sich nicht einen Millimeter. Sein Gesicht schien festgefroren, die Augen waren starr geradeaus gerichtet. Seine Haltung und sein Gesichtsausdruck erinnerten an den eines Mannes, der vor dem Schafott kniet. Nach einer Weile sah Greenfield wieder auf. „Nichts“, sagte er.
„In einem meiner linken, oberen Backenzähne ist eine mit Gift angefüllte Hohlkammer angebracht. Ich zähle bis zehn und beiße dann darauf. Danach könnt Ihr zusehen, wie ich vor euren Augen krepiere.“
Greenfield fuhr herum und wollte Mullers Unterkiefer festhalten. „Laßt ihn los“, sagte Boardman. „Er macht nur Spaß.“
„Aber woher sollen wir wissen…“, entfuhr es Greenfield.
„Laßt ihn los. Tretet einen Schritt zurück.“ Boardman gab ihnen ein entsprechendes Zeichen. „Geht auf fünf Meter Distanz. Kommt ihm nicht näher, solange er sich nicht bewegt.“
Sie kamen seiner Anordnung nach; offensichtlich dankbar, der vollen Wirkung seiner Ausstrahlung zu entkommen. Boardman, der fünfzehn Meter von ihm entfernt stand, spürte die Ausläufer des Leids. Er hütete sich, näher heranzutreten.
„Sie können jetzt aufstehen“, sagte Boardman. „Aber versuchen Sie bitte keine Tricks. Ich bedaure das hier sehr, Dick.“
Muller erhob sich. Sein Gesicht war dunkel vor Haß. Aber er sagte kein Wort und rührte sich danach auch nicht.
„Wenn uns keine andere Wahl bleibt“, sagte Boardman, „sprühen wir eine Schaummasse über Sie und tragen Sie aus dem Labyrinth hinaus zum Schiff. Wir werden Sie in keinem Moment von dem Schaum befreien und Sie in diesem Zustand auch den Extragalaktikern präsentieren. Sie sind dann absolut hilflos. Ich würde es verabscheuen, Ihnen so etwas antun zu müssen, Dick. Auf der anderen Seite haben Sie die Möglichkeit, freiwillig mit uns zusammenzuarbeiten. Kommen Sie aus eigenem, freiem Entschluß mit uns zum Schiff. Tun Sie, worum wir Sie bitten. Helfen Sie uns dieses letzte Mal noch.“
„Mögen Ihre Eingeweide verfaulen“, sagte Muller mit unbewegter Stimme. „Mögen Sie tausend Jahre leben, während Würmer Ihren Leib zerfressen. Mögen Sie an Ihrer eigenen Cleverneß ersticken und niemals die Erlösung des Todes finden.“
„Helfen Sie uns — freiwillig!“
„Sprühen Sie mich ein, Charles. Andernfalls bringe ich mich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit um.“
„Mein Gott, muß ich ein Bösewicht sein, was?“ sagte Boardman. „Aber ich will es nicht so schaffen. Kommen Sie freiwillig mit, Dick.“
Muller knurrte nur unwillig.
Boardman seufzte. Er haßte diesen Augenblick. Dann warf er Ottavio einen Blick zu.
„Die Schaummasse“, sagte er.
Rawlins, der bis jetzt wie in Trance dagestanden hatte, erwachte plötzlich zur Aktivität. Er rannte los, riß Reynolds die Waffe aus dem Holster, lief damit zu Muller und drückte sie ihm in die Hand. „Hier“, sagte er rasch. „Jetzt kannst du hier die Befehle geben!“
Muller starrte auf die Pistole, als hätte er eine solche Waffe zum ersten Mal gesehen. Aber seine Überraschung dauerte nur einen Sekundenbruchteil. Er umschloß mit den Fingern den gut in der Hand liegenden Griff und befühlte den Auslöser. Er kannte das Modell. Es hatte sich nur unwesentlich seit der Zeit verändert, als er zum letzten Mal eine solche Pistole in der Hand gehabt hatte. Mit einem raschen Energiestoß konnte er sie alle töten. Oder sich selbst. Er trat zurück, damit sie ihn nicht von hinten überrumpeln konnten. Mit dem Stoßsporn prüfte er die Festigkeit der Wand an seinem Rücken. Das Ergebnis war positiv, und er lehnte sich mit den Schulterblättern an sie. Dann bewegte er die Waffe in einem weiten Halbkreis und bewies damit, daß er jeden einzelnen von ihnen erledigen konnte.
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