Ich für mein Teil würde ein Exempel statuieren, erklärte ich, denn es sei feige, auf hilflose Zivilisten in Montreal zu schießen (und nicht zuletzt Calyxa an Leib und Leben zu gefährden). »Du wirst Schlimmeres erleben, bevor die Armee mit uns fertig ist«, meinte Sam; und wie die meisten Prophezeiungen aus seinem Mund, sollte sich auch diese voll und ganz erfüllen.
Am nächsten Tag hörte es auf zu regnen; ein paar Tage später waren die Wege trocken, und General Galligasken ritt höchstpersönlich durch das Heerlager, was wir als Zeichen eines bevorstehenden Angriffs deuteten.
Ich bekam den General flüchtig zu sehen. Ein breiter, unbefestigter Weg durchschnitt das gesamte Heerlager und verband etliche Exerzierplätze miteinander, und es war dieser breite Weg, den General Galligasken heruntergeritten kam. Zu beiden Seiten drängten sich die Infanteristen, schwenkten ihre Mützen und brüllten, als der General vorbeiritt. Ich war entschlossen, mir so ein Spektakel nicht entgehen zu lassen, und bahnte mir durch energischen Einsatz meiner Ellbogen einen Weg nach vorne, so weit zumindest, dass ich mit ein paar gut platzierten Sprüngen die ganze Prozession sehen konnte.
Der General sah überraschend jung aus. Er war kein Jüngling, aber auch kein angegrauter Veteran — bei den Feldzügen im letzten Jahr hätten die Deutschen besonders gut abgeschnitten, hatte Sam erklärt, und es seien zu viele angegraute Veteranen auf der Strecke geblieben. Viele junge Männer seien die Beförderungsleiter hinaufgefallen. General Bernhard W. Galligasken war einer von ihnen und machte eine wirklich gute Figur im Sattel, wie er so heiter auf das schwappende Meer an Infanteristen hinablächelte. Manche meinten, er sei eitel, und tatsächlich war seine Uniform maßgeschneidert und strahlte in all ihren Farben. Das blau-gelbe Kostüm stand ihm aber wirklich, und das lange Haar rieb sich auf fesche Weise am gesteiften Kragen. Der Alabastergriff seiner Porter-&-Earle-Pistole blitzte aus dem geschmeidigen Lederhalfter an der Hüfte, und an seiner Brust glänzte eine ansehnliche Menge geprägten Metalls, sichtbare Zeichen für die Schlachten, die er mitgemacht, und die Tapferkeit, die er in ihnen bewiesen hatte. Sein Hut war eine breitkrempige Extravaganz mit Pfauenfeder.
(Das chinesische Geschütz sprach zweimal während seines Auftritts, und eine der Granaten krepierte weniger als eine Viertelmeile abseits des Lagers; die Deutschen konnten nicht richtig nachjustieren, weil sie zu weit entfernt standen und die Einschläge nicht beobachten konnten. Es war ein Spiel mit dem Zufall, das wir alle verdrängten.) [31] Das chinesische Geschütz, meinte Sam, benutze eine teure Spezialmunition, die sich die Deutschen vermutlich für künftige und heftigere Kämpfe aufhoben.
Diese Prozession von General Galligasken mit seinem Gefolge von Untergebenen und Standartenträgern war schon ein bisschen mehr Brimborium, als man daheim in Williams Ford für angemessen gehalten hätte; doch der General war nicht nur gekommen, um eine Schau abzuziehen. Er traf sich an diesem Abend mit seinen Bataillonskommandeuren, um Kriegsrat zu halten. Letzte Feinheiten wurden verhandelt, und wir wurden angewiesen, »auf unseren Waffen zu schlafen« und uns zum Abmarsch bereitzuhalten.
Noch vor Tagesanbruch zogen wir in den Krieg.
Anfangs war es ein Marsch »ohne Tritt«, also auch ohne strikte Formation; obwohl unser Regiment eingedenk seines »unblutigen« Zustands die stattliche Viererreihe einhielt. Wir kamen nur langsam voran, es war noch dunkel, die Wege feucht, so dass die Maultierkolonnen und Pferdefuhrwerke mit Morast zu kämpfen hatten. Als der Horizont perlmuttfarben anlief, schwoll in die Geräuschkulisse aus Marschtritt, Lederknarren, rasselnden Feldküchen und klimpernden Sporen der ungereimte, freudige Chorgesang der Vögel. Es war Frühling, und die Vögel nisteten, ohne zu wissen, dass vielleicht all ihr Mühen heute oder irgendwann von Artillerieoder Gewehrfeuer zunichtegemacht wurde.
Das Gelände, das wir durchquerten, war zur Zeit der Säkularen Alten bebaut gewesen, aber nur wenige Spuren dieser hemmungslosen Ära hatten überdauert; ein ganzer Wald war seitdem hier gewachsen, Ahorn, Birke, Kiefer, die Wurzeln fraglos mit Artefakten aus der Blütezeit des Öls verflochten und mit den Gebeinen ihrer Besitzer. Unsere Welt, hatte Julian einmal gesagt, sei nichts anderes als ein gigantischer Friedhof, der von der Natur zurückgefordert werde. Jeder Schritt, den wir tun, dröhne in den Schädeln unserer Vorfahren, und ich hatte das Gefühl, Jahrhunderte statt Erdboden unter den Füßen zu haben.
Kaum hatte die Sonne den Horizont blank geputzt, begann das Scharmützel, oder es hatte schon vorher begonnen, denn wir befanden uns ziemlich hinten im Zug, und das hügelige Gelände ringsherum verschluckte den Gefechtslärm. In Wahrheit kündigte sich das Gefecht ähnlich wie ein heraufziehendes Unwetter an: zuerst die Rauchglocke über dem hügeligen Gelände vor uns; dann das leise Grollen der Artillerie; dann das Knattern von Handfeuerwaffen und schließlich der beißende Geruch von Schießpulver. Als die Sonne aufging, nahmen diese Anzeichen eines Kampfgeschehens an Umfang und Heftigkeit zu, und dann bekamen wir zu sehen, was jeden Soldaten mutlos macht: Fuhren von Getöteten, die nach hinten transportiert wurden. »Da muss ja wie verrückt gekämpft werden«, sagte ich verhalten, als eine Dominion-Kutsche vorbeiholperte (wie diese behelfsmäßigen Ambulanzen genannt wurden). Die Insassen waren den Blicken entzogen, dafür war ihr Stöhnen und Brüllen umso deutlicher zu hören.
Dann marschierten wir über den nächsten Hügel, und unversehens lag das Schlachtfeld wie ein Spielbrett vor uns — viele Spielfelder wurden allerdings von Rauch verdeckt. Ich glaubte General Galligasken auf demselben Hügelkamm zu sehen, hier standen auch unsere schwersten Geschütze und krachten und prallten eins ums andere zurück, immer wieder. Da unten lag der erste feindliche Schützengraben.
Ich sah zum ersten Mal Deutsche. [32] Deutsche , weil Deutschland Herz und Verstand von Mitteleuropa ist. Aber viele ausländische Soldaten in Labrador und die meisten ausländischen Siedler waren Niederländer , die in jüngster Vergangenheit einen erheblichen Teil ihrer Heimat an das Meer verloren hatten.
Beim Anblick ihres geballten Heeres konnte ich kaum an mich halten. Mein ganzes Leben lang hatte ich von den fürchterlichen und aggressiven Mitteleuropäern gehört, bis sie für mich zur Legende geworden waren, oft erwähnt, aber nie gesehen. Da unten waren sie leibhaftig, und selbst von hier oben und durch die Rauchschwaden und das Geschützfeuer hindurch bekam ich flüchtig die charakteristischen schwarzen Uniformen und blauen Helme zu sehen und die seltsamen Kreuz-und-Lorbeer-Fahnen.
Aus dieser Höhe erschienen ihre Stellungen uneinnehmbar: Ihre Gräben bildeten einen weiten Halbkreis, der innen mit lauter Lünetten, Redouten und Stacheldrahtverhauen gesprenkelt war und mit beiden Flanken an ein Flussufer stieß, das streng von feindlicher Artillerie bewacht wurde. Zurzeit trug eine amerikanische Division einen reichlich unverfrorenen, von seitlichem Ablenkungsgeplänkel begleiteten Frontalangriff vor, der sich aber, nach den vielen Verlusten zu urteilen, die sich vor den deutschen Gräben sammelten, nicht gut entwickelte.
Sam lehnte sich zu Julian und fragte nach Lehrerart: »Was siehst du?«
»Eine Schlacht«, sagte Julian mit brüchiger Stimme, sein Gesicht war von Natur aus blass, aber ich hatte es noch nie so blutleer gesehen.
»Das ist mir zu wenig! Reiß dich zusammen, Julian, und sag mir, was du siehst!«
Julian musste sich sichtlich anstrengen, seine Angst zu unterdrücken. »Ich sehe … na ja, einen konventionellen Angriff … mutig vorgetragen, aber ich begreife nicht, warum der General so viele Verluste in Kauf nimmt … wo ist die Strategie? Ich sehe nur brutale Gewalt.«
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