Julian hätte die Unterhaltung fortsetzen können, nur schon um Sam zu ärgern, doch wir betraten soeben eine gewaltige Eisenbrücke, die ein noch gewaltigeres Gewässer überquerte. Schiffe vieler Nationalitäten bewegten sich unter der Brücke, manche mit riesigen weißen Segeln und manche, die von Dampfkesseln angetrieben wurden; manche, die einen Bogen schlugen und zum Hafen von Montreal wollten, andere unterwegs zu den großen Binnenseen oder gen Osten zum Atlantik; und hinter dieser Brücke lag die wundersame Stadt Montreal, und es war diese Stadt, die uns letzten Endes den Atem raubte — mir zumindest.
Ich sollte größere Städte zu sehen bekommen und in noch weitere Fernen reisen; aber da Montreal die erste richtige Stadt war, die ich zu Gesicht bekam, konnte ich sie nur mit Williams Ford vergleichen. An Williams Ford gemessen war sie gigantisch. Und sie sei früher noch »gigantischer« gewesen, erinnerte mich Julian, denn wir waren den ganzen Morgen durch eine Landschaft marschiert, die im Grunde genommen eine einzige riesige Abraumhalde war, von Feuer und Verfall gezeichnet und von Gestrüpp und niedrigen Bäumen zurückerobert: die einstigen Industrieviertel und wuchernden Vororte eines Montreal, wie es nur die Säkularen Alten gekannt hatten. Was uns damals so faszinierte, war nur der Kern des einstigen Montreal.
Und in diesem Kern hatten viele herrliche antike Bauwerke überdauert. »Die Häuser sind so hoch!«, entfuhr es mir, und Julian sagte: »Sie waren früher noch viel höher. Selbst diese Gebäude sind abgewrackt worden, Adam.« Er lenkte meine Aufmerksamkeit von den kahlen, kompliziert verschachtelten Betonfassaden auf die komischen Spitzdächer mit ihren geriffelten Ziegeln aus rotem Lehm und den schiefen Schornsteinen: »Siehst du, wie primitiv und schlampig so ein Dach gemacht ist im Vergleich zu dem Gebäude darunter? Dabei sind die Dächer viel jünger. Hier gibt es kaum mehr als drei oder vier Stockwerke (ja, ja, ›immer noch sehr hoch‹, nun hör auf zu glotzen, Adam, du blamierst dich nur), aber manche von diesen Gebäuden waren früher bis zu zehnmal höher, der größte Teil von ihnen ist Zoll für Zoll abgebaut worden, um Holz, Draht und Aluminium zu gewinnen. Sogar die Stahlskelette wurden systematisch zurückgestutzt, um damit die Walzwerke zu beschicken; gewohnt wird nur noch in ausgeschlachteten Betonstümpfen. Wenn du von dieser Stadt überwältigt bist, Adam, dann versuch dir mal das Montreal von damals vorzustellen. Vor Jahrzehnten standen hier wahre Wunder aus Glas und Stahl — Berge von Menschenhand —, eine Stadt, die sich anschickte, den Himmel zu erobern.« Julians Blick schweifte ab. »Genau wie New York City«, fügte er stolz hinzu, »nur dass New York City größer ist.«
Seine Vergleiche konnten mich nicht einschüchtern; mir reichte das heutige Montreal mit seinen ziegel- und kopfsteingepflasterten Straßen und seinen rastlosen Einwohnern. Sollte Julian die Wunder der Vergangenheit beschwören — hier und jetzt gab es reichlich Stoff für einen wissbegierigen Burschen wie mich.
Die Leute waren fast so erstaunlich wie ihre Stadt. Weil wir geschlossen marschierten, machte unser Regiment einen martialischen Eindruck, und die Einwohner traten (nicht immer wohlwollend) zurück, um uns vorbeizulassen, während Pferdewagen beim Geräusch unserer Stiefel in Nebenstraßen auswichen. Die Frauen waren farbenfroh gekleidet, in allen Farben des Regenbogens, und kamen mir zugeknöpft, aber auch verlockend vor, so wie sie durch die Frühlingssonne bummelten, um kurze Abstecher in die unzähligen Läden und Märkte zu machen; die Männer waren eher konservativ gekleidet — mehr Pfauhenne als Pfau —, aber ihre Hosen, Hemden und Mäntel waren sauber und gedämpft. Selbst die Kinder waren gut gekleidet, und nur wenige gingen barfuß. Ich fragte Julian: »Sind das lauter Aristokraten?«
»Einige, aber die meisten nicht. Die Oststädte sind keine Landgüter mit einer streng kontrollierten Pächterklasse. Eine Großstadt braucht Handwerker und Arbeiter, die sich frei zwischen verschiedenen Arbeitsplätzen bewegen können; Geschäftsführer und Kleineigner können Kredite aushandeln und Fabriken gründen oder Läden aufmachen und damit Geld verdienen. Was dabei herauskommt, ist eine Bürgerschaft, deren Angehörige mitunter so wohlhabend sind, dass sie sich extravagant kleiden können — zumindest zu Ostern —, auch wenn sie nicht im wahrsten Sinne des Wortes ›begütert‹ sind.«
»Hat die Stadt nicht unter dem Krieg gelitten?«
»Ja und nein. In jüngster Vergangenheit war die Stadt ausschließlich in amerikanischer Hand, und die Truppen, die hier in Garnison lagen, haben zweierlei bewirkt: einen wirtschaftlichen Aufschwung und ein Übermaß an Diebstahl und Laster. Schau mal, Adam, das wird dich beeindrucken — ich glaube, das ist die Kathedrale, in der unser Gottesdienst stattfindet.«
Nach diesem sarkastischen Kommentar blieb mir förmlich die Spucke weg, und Julian lachte wieder über mein ungläubiges Gaffen. Die Straße war leicht angestiegen, war um eine Ecke gebogen und hatte uns in die unmittelbare Nähe einer riesigen Kirche gebracht. Es war das größte Bauwerk, das ich jemals gesehen hatte. [30] Abgesehen von Eisenbahnbrücken. Aber selbst die Bockbrücke in Connaught, die den River Pine überquert, hätte — auf geeignete Weise zusammengefaltet — in diese Kathedrale gepasst.
Die Spitztürme waren hoch genug, um die Wolken zu kitzeln, und es verschlug mir den Atem, als wir durch den Schatten des Bauwerks und durch seine riesigen und reich verzierten Holztüren marschierten. In der Düsternis des Foyers hielten wir auf Geheiß von Major Lampret inne und nahmen respektvoll die Mütze ab und stopften sie in die Tasche. Dann passierten wir ein zweites Paar Türen und betraten die »Kathedrale«, wie Julian die Kirche nannte, die eher der Dominion-Halle in Williams Ford glich — wenn man die Dominion-Halle zu ungeheurer Größe aufgepumpt und die bescheidenen Wände gegen Granitgewölbe ausgetauscht hätte und ihre Holzarbeiten von einer Armee imaginärer und leicht übergeschnappter Tischler hätte anfertigen und polieren lassen. Wohin man auch blickte, sah man allerfeinste Filigranarbeit und Nischen und Kapellen mit noch mehr Filigranarbeit, und mehr Kerzen als der Nachthimmel Sterne hatte, die einen ätzenden Geruch von Rauch und Wachs erzeugten; und auf all das sahen etliche großartige Buntglasfenster herab, die so hoch waren wie die Kiefern von Athabaska und allesamt ekklesiastische Themen behandelten und dank der Sonne über Montreal in paradiesischen Farben erstrahlten.
Unter den Soldaten, von denen nur wenige jemals in einer Kathedrale gewesen waren, wurden ehrfürchtige Kommentare laut, und mehrere Männer stießen Laute aus, um zu erleben, wie sie sich am fernen Deckengewölbe brachen und als Echo zurückkamen, bis Major Lampret die Betreffenden durch einen leichten Klaps zur Ordnung rief. Dann nahmen wir in den Bänken Platz.
»Macht es dir nichts aus«, flüsterte ich Sam zu, »dass du hier an einem christlichen Gottesdienst teilnimmst?«
»Christen haben mich nach dem Tod meiner leiblichen Eltern aufgezogen«, rief er mir in Erinnerung, »und ich bin schon in vielen christlichen Kirchen gewesen, und das nicht nur zu Ostern; ich versuche mich wie ein wohlerzogener Gast zu benehmen, auch wenn ich kein frommer Gläubiger bin. Jetzt sei still, Adam Hazzard, und lausche den Gesängen.«
Wie es sich traf, saßen wir in der Nähe des Chors. Zuerst schien der Chor nur eine anonyme, weiß gekleidete Masse zu sein. Dann, während sich meine Augen an das Duster gewöhnten, erkannte ich, dass die Chorsänger weiblichen Geschlechts waren und größtenteils jung, und ich schäme mich zu sagen, dass mir diese Entdeckung gefiel, denn die Frauen von Montreal waren von einer Schönheit, die (so schien es mir damals) mindestens so frappierend war, wie alle Buntglasheiligen und Marmormärtyrer des Christentums zusammengenommen.
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