Als ich aus der Kathedrale torkelte, verlor ich sofort die Orientierung. Der Artilleriebeschuss hatte schwere Schäden nebenan verursacht: Die Straße, auf der wir gekommen waren, war durch Trümmer blockiert und stand teilweise in Flammen. Stadtbewohner rannten planlos hin und her, manche mit blutigen Wunden oder Verbrennungen, und rot gestrichene Löschfahrzeuge, die von schnaubenden Pferden gezogen wurden, rasselten mit wild bimmelnden Messingglocken die offenen Straßen hinunter. Aber nur bestimmte Bereiche dieser riesigen Stadt waren betroffen — sie war so riesig, dass sie unberührt schien —, und nach kurzem Überlegen beschloss ich, mich nach Osten vorzuarbeiten, bis in Sichtweite der Eisenbrücke, auf der wir hermarschiert waren. In dieser Absicht folgte ich also einer Seitenstraße, die nicht unter dem Angriff gelitten hatte, wo die vier- und fünfstöckigen Betongebäude im Parterre in Läden aufgeteilt waren und die Geschosse darüber Balkone und Eisengitter hatten und mit Frühlingsblumen geschmückt waren. Die malerische Gasse verlief allerdings nicht gerade; sie wand sich wie eine Schlange, und als ich zur nächsten Kreuzung kam, wusste ich nicht, in welche Richtung ich gehen sollte.
Inzwischen eilten unausgesetzt Einwohner an mir vorbei. Nicht einer floh vor dem Artilleriebeschuss im Viertel der Kathedrale, und alle waren zu sehr mit ihren Problemen beschäftigt, als dass sie einen einzelnen versprengten Infanteristen bemerkt hätten. Hilflos und durcheinander stand ich da, als ein weißer Schlenker auf der anderen Straßenseite meinen Blick auf sich zog — ein Chorhemd, wie Sie sicher schon erraten haben, und anhatte es niemand anderes als die Frau mit dem Spirallockenkopf und den strahlenden Augen. Ohne auf die Kutschen und Fuhrwerke zu achten, stürmte ich über die Straße.
»Sie waren in der Kirche!«, sagte ich, als ich drüben war; und sie drehte sich um und blinzelte mich an, die kleinen Hände zu Fäusten geballt für den Fall, dass ich zum Problem wurde.
»Ja?«, sagte sie brüsk.
»Sind Sie … ähm … sind Sie verletzt?«
»Offensichtlich nicht«, erwiderte sie in einem Tonfall so kühl, dass ich annehmen musste, gelegentlicher Artilleriebeschuss durch die Deutschen gehöre inzwischen so zu ihrem Alltag wie Windböen im Sommer.
»Ich schon!«, brachte ich heraus. »Ich habe mir den Kopf verletzt.«
»Wie bedauerlich. Ich hoffe, Sie sind bald wieder gesund.«
Sie wandte sich ab.
»Warten Sie!«, sagte ich und machte eine vage Geste in Richtung Rauchwolken. »Was geht hier vor?«
»Man nennt es Krieg«, sagte sie wie zu einem Tölpel, der sich nach der Farbe des Himmels erkundigt (und alles, was Recht ist: So wird es sich angehört haben). »Die Deutschen haben Sperrfeuer eröffnet. Obwohl es jetzt aufgehört hat. Müssten Sie nicht bei Ihrem Regiment sein, Soldat?«
»Müsste ich; und wäre ich auch, wenn ich es finden könnte. Wie komme ich zu der großen Eisenbrücke?«
»Es gibt mehrere, aber zu der, die Sie meinen, geht es da lang.«
Ich bedankte mich und setzte hinzu: »Darf ich Ihnen meinen Schutz für den Heimweg anbieten?«
»Natürlich nicht«, sagte sie.
»Ich heiße Adam Hazzard«, sagte ich, wohl wissend, wie wichtig es ist, sich vorzustellen.
»Calyxa«, sagte sie widerwillig. Ich hatte diesen interessanten Namen noch nie gehört. »Gehen Sie zu Ihrem Regiment zurück, Adam Hazzard, und lassen Sie sich verbinden. Sie bluten ja.«
»Sie singen wunderschön.«
»Ha«, machte sie und ging davon, ohne sich noch einmal umzublicken.
Die Begegnung war kurz, aber erfreulich gewesen, und das unter so widrigen Umständen, und als ich auf die Brücke zulief, dankte ich — trotz meiner Beklemmung und trotz des Blutes, das über mein Gesicht rann, und trotz der Rauchwolken, die hinter mir aus der Stadt quollen — der Vorsehung, dem Schicksal, dem Zufall oder einer dieser heidnischen Gottheiten, dass sie uns beide zusammengeführt hatte.
»Sie haben ein chinesisches Geschütz«, sagte Sam.
Ich hatte mein Regiment eingeholt, und Sam und Julian hatten sich entschuldigt, mich nicht gesucht zu haben — ja, man habe mich nicht einmal vermisst, als man sich draußen vor der Kathedrale wieder gesammelt hatte. Ich machte das Chaos nach dem Artillerietreffer dafür verantwortlich und weniger meine Bedeutungslosigkeit. Zumal ein herzlicher Empfang auch den letzten Rest an Argwohn zerstreute.
Ich erwartete, dass man uns sofort in die Schlacht werfen würde, um die Deutschen für ihre Dreistigkeit zu bestrafen. Aber eine moderne Armee ist eine sesshafte Bestie und nur schwer zu bewegen. General Galligasken, ihr Oberbefehlshaber, war ein notorisch vorsichtiger Führer, der sich sträubte, seine Streitkräfte einzusetzen, solange er nicht auf alle Eventualitäten vorbereitet war und alle Vorbereitungen getroffen waren. Und diese Neigung frustriere die Exekutive, meinte Julian, mache Galligasken aber bei der Truppe zu einer populären Figur — die Soldaten wurden gut versorgt und ihr Leben nicht leichtsinnig aufs Spiel gesetzt. (Die Veteranen unter uns wussten Geschichten über seinen Vorgänger, General Stratemeyer, zu erzählen, der ein strenges Regiment geführt und Abertausende von Soldaten in sinnlosen Grabenkämpfen geopfert hatte. General Stratemeyer war im letzten Frühjahr getötet worden, als er aus seinem Lager geritten war, um einen Kommandeur der Kavallerie aufzusuchen — er nahm die falsche Abzweigung und kreuzte die Linie deutscher Plänkler, die aus dem Stegreif ein Übungsschießen daraus machten.)
Dank unseres Oberbefehlshabers marschierten wir also nicht unverzüglich in die Schlacht, sondern blieben im Lager, während Späher und Vorposten die gegnerischen Linien erforschten und mit Gefangenen zurückkamen, die mit nützlichen Informationen über Stärke und Absichten des Feindes herausrückten. Sam, der nach wie vor nur Gefreiter war, ließ seine Beziehungen spielen, bis er wohlunterrichtet war über den Status quo der militärischen Lage. Eine Woche nach dem Angriff auf Montreal kauerten wir, um einem neuerlichen Dauerregen zu entgehen, zu dritt im Zelt, und Sam erzählte uns von dem chinesischen Geschütz, derweil ein Frühlingszephir auf der Zeltmembran über unseren Köpfen spielte.
Ich wollte wissen, was das Chinesische an einem Geschütz sei und warum es so viel gefährlicher sein sollte als die normalen.
»Die Chinesen«, sagte er, »unternehmen schon seit vielen Jahren Feldzüge und produzieren einfach bessere Feldartillerie, besonders, was die Reichweite angeht. Und um ihre Kriegskasse aufzufüllen, exportieren sie ein paar von diesen Waffen. Chinesische Geschütze sind furchterregend, aber wahnsinnig teuer. Die Mitteleuropäer müssen ein Exemplar erstanden haben oder bauen sie nach.«
»Wir haben jede Menge Artilleriegeschütze«, protestierte ich, denn ich hatte sie ja herumstehen sehen.
»Viele und gut gearbeitete«, stimmte Sam zu. »Aber das chinesische Geschütz ist den unseren an Reichweite überlegen. Es trägt Granaten und Schrapnells tief ins feindliche Territorium. Ich denke, wir könnten ein ähnliches Geschütz auch auf traditionelle Weise bauen, aber das Ding wäre ein Monster und kaum zu transportieren. Das Geniale am chinesischen Geschütz ist, dass es sich rasch in sogenannte Untergruppen zerlegen lässt, die sich mit Pferdefuhrwerk oder Eisenbahn so leicht verfrachten lassen wie herkömmliche Geschütze.«
»Wir müssen dieses Geschütz erobern oder unschädlich machen«, sagte ich fest entschlossen.
»General Galligasken wird daran gedacht haben«, sagte Julian. »Obwohl gegen deine Schlussfolgerung so weit nichts einzuwenden ist.«
Sam überhörte Julians Sarkasmus und sagte: »Das werden wir machen oder zumindest versuchen, aber das wird nicht übers Knie gebrochen. Aber ich gehe davon aus, dass sich noch diese Woche etwas tut. Zügle deine Ungeduld, Adam — so wie du darauf aus bist, sie abzustrafen, sind die Deutschen darauf aus, dich vor die Flinte zu bekommen.«
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