»Und was ist mit Julian? Weiß er von dem Feuer?«
»Noch nicht. Er hat sich eingekapselt in seiner Loge und mit lauter Gardisten umgeben. Aber ich werde mit ihm reden, noch ehe der Film zu Ende ist, und wenn es blutige Nasen gibt.«
»Ich glaube nicht, dass er sich das Ende des Films entgehen lässt.« Das Gleiche galt für Calyxa, die jetzt unverzichtbarer Bestandteil der Aufführung war.
»Wahrscheinlich nicht«, sagte Sam grimmig.
Eine Glocke bimmelte — das Signal, die Plätze einzunehmen. »Aber sowie der Vorhang fällt«, fuhr Sam hastig fort, »müssen wir sofort hier raus. Wir sehen uns zwischen den Akten, hier im Foyer. Und wenn nicht … oder wenn wir getrennt werden — vergiss nicht! Die Goldwing , in aller Herrgottsfrühe.«
Es war klar, dass mir der Kopf schwirrte, als sich der Vorhang hob; dabei kam (abgesehen von dem Feuer im ägyptischen Viertel) nichts von alledem gänzlich unerwartet, obwohl ich gehofft hatte, nicht so bald fliehen zu müssen. Aber da ich vorerst nirgends gebraucht wurde, konnte ich mich ebenso gut auf Charles Darwin konzentrieren.
Das Orchester spielte eine lebhafte Ouvertüre, eine Kombination aus den wesentlichen musikalischen Themen des Films. Die Erregung des Publikums war augenfällig. Dann gingen die Lichter aus, und eine grandios verzierte Titelei flammte auf:
THE LIFE AND ADVENTURES OF THE GREAT NATURALIST CHARLES DARWIN
(FAMOUS FOR HIS THEORY OF EVOLUTION, ETC.)
Produced by Mr. Julian Comstock and Company
with the assistance of the
New York Stage and Screen Alliance
Featuring Julinda Pique as Emma Wedgwood
and introducing Magnus Stepney in the Title Role
Die Schrift verblasste und machte dem schlichter gehaltenen Hinweis Platz:
OXFORD
IN THE COUNTRY OF ENGLAND
Long before the Fall of the Cities
Damit war der Schauplatz geklärt. Der junge Darwin spazierte durch die Landschaft von Oxford, die in Wahrheit das Jagdrevier des Palastgeländes war, bestückt mit Schildern wie FORTY MILES TO LONDON und WATCH OUT FOR FOX HUNTS und dergleichen, um einen allgemeinen Eindruck von England zu vermitteln.
Ich hatte bis jetzt noch keinen Filmmeter gesehen und gewisse Zweifel gehabt, was Pastor Stepneys schauspielerische Qualitäten betraf. Doch er verkörperte, ein bisschen zu meiner Überraschung, einen achtbaren Darwin. Vielleicht ist die Kanzel der richtige Exerzierplatz für Schauspieler. Wie dem auch sei, er gab einen stattlichen Naturforscher ab; und die berühmte Julinda Pique, obwohl fast doppelt so alt wie er, stellte eine angemessen attraktive Emma dar, wobei jedwede äußerliche Unvollkommenheit weggeschminkt war.
Ich habe die Geschichte bereits umrissen und will mich hier nicht wiederholen; nur ein paar Höhepunkte seien erwähnt: Der erste Akt hielt das Publikum unbarmherzig im Griff. Darwin sang seine Arie über die Ähnlichkeit zwischen Insekten verschiedener Arten, synchronisiert durch einen kraftvollen Tenor. Das Oxford Bug Collecting Tournament wurde gezeigt, Emma frohlockte am Bildrand. Für mich bestand nicht der geringste Zweifel: Während Julinda Pique auf der Leinwand agierte, stammte die Stimme, die ihr anscheinend über die Lippen kam, von Calyxa in ihrer verhangenen Kabine. Ich hatte befürchtet, Calyxa könne sich durch ihre Unerfahrenheit verraten, doch schon der allererste Refrain [116] I had not entertained the thought That I could love a scholar, For they read from books an awful lot And seldom spend a dollar … (Wer hätte gedacht, dass ich mich ausgerechnet in einen Gelehrten verliebe; die lesen furchtbar viel und geben selten einen Dollar aus …)
klang erfrischend und kühn; ein beifälliges Raunen lief durch die Reihen.
Natürlich neigte das Publikum, das sich hauptsächlich aus Apostaten und radikalen Querdenkern zusammensetzte, zu Beifallsbekundungen; ich fand es trotzdem schockierend, Häresien so offen proklamiert zu hören. Als der schändliche Wilberforce sang Only God can make a beetle , wiederholte er exakt, was ich in der Dominion-Schule gelernt hatte; und Darwins Retourkutsche ( I see the world always changing / unforced, unfixed, and rearranging ) hätte mir eine Strafpredigt oder Schlimmeres eingebracht, wenn ich sie Ben Kreel (zumal gereimt) dargeboten hätte. Aber hatte Darwin nicht Recht? Ich hatte so viel von dieser unfertigen Welt gesehen, dass ich mich beim Nicken ertappte.
Das Insekten-Turnier endete mit Sieg und Kuss für Charles Darwin. Darwins Schwur, die Welt auf der Suche nach dem Geheimnis des Lebens zu bereisen und der Racheschwur des eifersüchtigen Wilberforce waren Gegenstand eines mitreißenden Duetts, das den Vorhang für den ersten Akt in einen frenetischen Applaus fallen ließ.
In dieser Nacht blies ein trockener, steifer Wind aus dem Norden und fachte die Flammen im ägyptischen Viertel an. Draußen vor dem Theater priesen Zeitungsjungen eine Spätausgabe des Spark an. BIG BLAZE HITS GYPTOWNwar die vulgäre, aber zutreffende Schlagzeile. [117] FEUERSBRUNST IM ÄGYPTISCHEN VIERTEL
Das war eine bestürzende Nachricht, denn ein unkontrolliertes Feuer in einer modernen Stadt kann rasch zu einer allgemeinen Katastrophe werden, doch das Lichtspieltheater war weit entfernt von den Flammen, und im dicht bevölkerten Foyer gab es nur vereinzelte aufgeregte Unterhaltungen, von Panik keine Spur.
Ich hielt Ausschau nach Sam und sah ihn die Treppe von einer der Emporen herunterkommen.
»Zum Teufel mit Julian!«, sagte er, als ich neben ihm war. »Er macht niemandem auf, auch mir nicht — hockt da drinnen mit Magnus Stepney und bewaffneten Gardisten vor den Türen — keine Ausnahmen!«
»Ich glaube, er ist nervös. Wie sein Film ankommt, mehr interessiert ihn jetzt nicht.«
»Ich glaube, er ist halb übergeschnappt — so weit lässt man es nicht kommen —, aber das ist keine Entschuldigung!«
»Am Ende muss er ja rauskommen. Vielleicht kannst du gleich nach dem letzten Akt mit ihm reden.«
»Ich werde vorher mit ihm reden, und wenn ich die Waffe ziehen muss! Hör zu, Adam: Die Gardisten, die ich mit Emily zum Palast geschickt habe, melden mir, dass sie zwei Fuhrwerke bereitstehen hatte und zusammen mit Flaxie, Betreuerinnen, Dienstpersonal und einem Trupp ausgeruhter Gardisten zum Hafen unterwegs sei. Keine Zwischenfälle, alles sei reibungslos verlaufen.«
Die Vorstellung, dass Flaxie in dieser brenzligen Nacht elternlos durch die Straßen von Manhattan geisterte, gefiel mir ganz und gar nicht; doch ich wusste, dass Julians Mutter unser Baby liebte, als wäre es ihr eigenes, und jede erdenkliche Vorsicht walten ließ. »Und passieren kann ihnen nichts?«
»Keine Sorge. Wahrscheinlich sind sie schon an Bord der Goldwing . Aber im Palast ist der Teufel los — das ist die Kehrseite der Medaille. Das Dienstpersonal und die Gardetruppen haben sie mit Sack und Pack wegfahren sehen und machen sich ihren Reim darauf. Lymon Pugh tut sein Bestes, um die Ordnung aufrechtzuerhalten und Plünderungen zu verhindern. Aber es wird sich wie ein Lauffeuer verbreiten, dass Julian der Eroberer abgedankt hat — und das hat er, ob er es schon weiß oder nicht —, und das Palastgelände ist ein gefundenes Fressen für Chaoten und marodierende Soldaten.«
»Was heißt das?«
»Das heißt, die Bluthunde sind uns auf den Fersen, und dieser verdammte Film ist hoffentlich bald zu Ende!«
Und damit bimmelte es zum zweiten Akt.
Der zweite Akt erzählte von Darwins Seereisen, stand also in krassem Gegensatz zur ländlichen Idylle des ersten Aktes. (Und passte somit zu dem stürmischen Seegang in meinem Innern.)
Da war die Beagle (in Wahrheit ein alter angemieteter Schoner draußen vor Long Island) unterwegs nach Südamerika mit ihrer Mannschaft aus verwegenen Seeleuten. Daheim in England war Emma Wedgwood, die sich dem Werben des wohlhabenden und zunehmend verbitterten Wilberforce verweigerte. Und hier war Wilberforce in einer Hafenkneipe und schob dem betrunkenen Kapitän eines Piratenschiffs ein Bündel Geld über den Tisch, damit dieser die Beagle verfolgte und auf den Grund des Meeres schickte.
Читать дальше