Da war auch Südamerika mit seiner sonderbaren tropischen Schönheit. Da war Darwin, der Meeresmuscheln von den Klippen pflückte und Knochen ausgestorbener Säugetiere aus dem uralten Mergel zog und die ganze Zeit eine Meditation über das Alter der Erde sang und vor äußerst angriffslustigen Gürteltieren floh. Dann war Darwin auf den Galapagosinseln und sammelte Spottdrosseln und bot einem wilden Löwen die Stirn (in Wirklichkeit eine mit Läufer und Perücke ausstaffierte Dogge, die aber durchaus überzeugend wirkte). Der Dschungel (zum größten Teil aus Papier) erstreckte sich bis an die fernen Berge (gemalt), und eine Giraffe tauchte flüchtig auf. [118] In Südamerika gab es zwar so gut wie keine Giraffen; doch was man hat, das soll man nutzen.
Auf der Rückreise nach England stieß die Beagle auf die von Wilberforce gedungenen Seeräuber. Sie wurde geentert, und der Kampf an Deck wirkte sehr realistisch. Als Seeräuber hatte Julian einen Trupp Männer aus den New Yorker Hafenkneipen rekrutiert, die ihre Aufgabe vielleicht etwas zu gut angingen. Wir hatten ihnen gezeigt, wie man zuschlug und ein Schwert führte, ohne jemanden umzubringen; doch die Ausführung war häufig schlampig oder übereifrig, so dass etwas von dem Blut, das vergossen wurde, echter war, als den Berufsschauspielern lieb gewesen war.
Darwin erwies sich, was man von einem Naturforscher nicht erwartet hätte, als geschickter Schwertkämpfer. Mit einem Satz war er auf der Ankerwinde und verteidigte das Vordeck gegen Dutzende von Piraten, wobei er sang:
Now we see in miniature the force that shapes creation:
I’ll slay a Pirate — this one, here — and stop the generation
Of all his heirs, and all their heirs, and all the heirs that follow,
Just as the Long-Beaked bird outlives the starving Short-Beaked Swallow.
Some pious men may find this truth unorthodox and bitter:
But Nature, Chance, and Time ensure survival of the fitter! [119] Hier erleben wir en miniature die Kraft, die alle Lebewesen formt. Ich töte einen Piraten — nämlich diesen hier — und vernichte damit alle seine Nachkommen und deren Nachkommen und so fort, gerade so wie der Vogel mit dem langen Schnabel länger lebt als die Hunger leidende Schwalbe mit dem kurzen. — Manch frommer Mensch findet diese Wahrheit abwegig und bitter: Doch Natur, Zufall und Zeit garantieren das Überleben der »Fittesten«.
Eine so gute Kampfszene war (meines Wissens) noch nie gedreht worden. Die anwesenden Ästheten und Apostaten waren nicht so leicht zu beeindrucken, aber sie brachen in Bravorufe aus und johlten triumphierend, als Darwin den Piratenkapitän mit seinem Schwert durchbohrte.
Die Beagle erreichte London, lädiert, aber fahrtüchtig — beobachtet von Emma am Ufer und von Wilberforce aus dem Schatten heraus — Wilberforce, jetzt Bischof, sang mit grimmiger Miene eine Reprise seiner mörderischen Absichten.
In Erwartung des dritten und letzten Aktes schlenderte ich durch die Menschenmenge im Foyer auf die großen Glastüren zu. Ich konnte sehen, dass der Wind an Stärke zugenommen hatte, denn er zerrte an den Markisen und Bannern längs des Broadways, und die Droschkenfahrer am Trottoir drängten sich zusammen und klammerten sich an ihre Pfeifen. Ein zweispänniges Löschfahrzeug lärmte mit bimmelnden Messingglocken vorüber, zweifellos unterwegs zum Einwandererviertel.
Es herrschte ein aufgeregtes Kommen und Gehen von Kurieren in Gardeuniform — sie schoben das Aufsichtspersonal beiseite und eilten die Treppe zu Julians Hochbalkon hinauf und hinab. Sam tauchte allerdings nicht auf, und so kehrte ich, ohne auf dem Laufenden zu sein, in den Saal zurück, um mir den dritten Akt anzusehen.
Während dieses letzten Aktes, als Darwin und Bischof Wilberforce sich im Zuge ihrer großen Debatte andauernd ansangen, kam mir die ganze Tragweite dieses Abends zu Bewusstsein. Selbst als das Publikum seine Anteilnahme durch lautes Bravo für Darwin und ebenso laute Buhrufe für Wilberforce bekundete (die Pfiffe waren manchmal verwirrend), lag mir die Tatsache, dass ich heute noch mein Vaterland verlassen sollte, schwer auf der Seele.
Ich hielt mich für einen Patrioten oder wenigstens für so patriotisch, wie es die meisten Amerikaner waren. Was nicht hieß, dass ich den Rücken vor irgendeinem Individuum beugen würde, das zufällig Präsident war, aber auch nicht vor einem Senat, ja nicht einmal vor dem Dominion. Ich hatte zu viele Schwächen und Borniertheiten solcher Leute und Institutionen erlebt. Aber das Land — das Land liebte ich, sogar Labrador (soweit ich es kannte und ein klein wenig reservierter vielleicht); und ganz bestimmt New York City; aber über alles den Westen mit seinem zerklüfteten Ödland, der offenen Prärie, den saftig grünen Vorgebirgen und purpurrot gefärbten Bergen. Der nördliche Westen war nicht reich oder besonders dicht besiedelt, aber seine Menschen waren höflich und nett und …
Nein, so meine ich das nicht. Die Menschen im Westen sind nicht bescheidener oder besser als andere. Es gibt durchaus Gauner und Schläger unter ihnen; obwohl es in Manhattan bestimmt mehr davon gibt. Nein, ich will sagen, dass ich im Westen aufgewachsen bin und gelernt habe, die Welt mit seinen Augen zu sehen. Von seiner Weite habe ich unsere »Größe« gelernt; von seinen Sommernachmittagen Kunst und Wissenschaft des Ruhens; von seinen Winterabenden den bittersüßen Geschmack der Melancholie. Jeder Mensch lernt diese Dinge auf die eine oder andere Weise; aber ich habe sie vom Westen gelernt, und ich bin ihm auf meine Weise treu geblieben.
Und nun ließ ich das alles zurück.
Meine Gefühle rückten Darwins Arie über die Zeit und das Alter der Erde in ein schärferes Licht, obgleich mir diese Gedanken nicht neu waren, denn ich hatte sie oft genug von Julian gehört. Die Berge, die ich so bewunderte, hatte es nicht immer gegeben, der Weizen, von dem ich mich ernährte, wuchs auf dem Grund eines Urmeeres, und es waren Äonen von Eis und Feuer vergangen, ehe sich die ersten Menschen den Rocky Mountains genähert und die Gegend von Williams Ford entdeckt hatten. Alles fließt , pflegte Julian einen Philosophen zu zitieren; und man könne es sehen, wäre man nur imstande, ein Weltalter stillzuhalten.
Für mich hier unten am Orchestergraben war diese Vorstellung nicht weniger beklemmend als für Bischof Wilberforce da oben auf der Leinwand. Ich konnte Wilberforce nicht leiden, er trachtete Darwin nach dem Leben und stellte der armen Emma nach; aber ich empfand eine unerwartete Sympathie für ihn, als er in die zerklüftete Wiese des Mount Oxford kletterte (in Wirklichkeit irgendeine schroffe Landzunge oben am Hudson), in der Hoffnung, die Evolution zu erschießen und obendrein die Ungewissheit zu ermorden.
Es war Calyxas Stimme, die mich aus der Talsohle holte. Emma Wedgwood sang:
It’s difficult to marry a man
Who won’t admit the master plan
In nature’s long exfoliation,
But finds a better explanation
In Natural Law and Chance Mutation —
His theories shocked a Christian Nation —
But I love him nonetheless!
Yes, I love him, nonetheless! [120] Es ist nicht einfach, einen Mann zu heiraten, der den Schöpfungsplan in der sich ewig häutenden Natur leugnet, und der eine bessere Erklärung in Naturgesetz und zufälliger Mutation findet. Auch wenn seine Theorie die Nation schockiert, so liebe ich ihn trotzdem …
Und sie sang es so rückhaltlos und mit einer so gewinnenden Stimme, dass ich Julinda Pique auf der Leinwand vergaß und vor meinem geistigen Auge Calyxa singen sah; und ich wurde zu Darwin, der um seine Liebste kämpfte. Diese Analogie stellte sich nicht von ungefähr ein, denn Calyxa war durch Julians Scheitern als Präsident ebenso sehr bedroht wie Emma Wedgwood durch die Schüsse und Winkelzüge dieses Bischofs.
Читать дальше