»Gerne, Julian. Lass hören.«
»Meine Mutter schmiedet Pläne für den Fall, dass wir alle das Land verlassen müssen. Ich habe ihr wiederholt erklärt, dass es zu einem so drastischen Abgang nicht kommen wird. Aber man kann nie wissen. Es stimmt, dass ich mir Feinde gemacht habe. Ich habe mit der Geschichte gespielt und weiß nicht, was dabei herauskommt. Adam, siehst du die drei Filmdosen?« Er zeigte auf den Tisch an der Tür.
»Nicht zu übersehen. Was ist das? Frisch aus dem Archiv?«
»Nein, das ist The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin . Alle drei Akte, das Original samt Partituren, Textbuch und Bühnenanweisungen. Vielleicht ist es kindisch, aber der Gedanke, der Film könnte ein für alle Mal verlorengehen, gefällt mir nicht. Wenn die politische Situation umschlägt oder mir etwas zustößt, möchte ich, dass du Darwin mitnimmst.«
»Mache ich! Du hast mein Wort. — Aber du kommst doch mit nach Frankreich, wenn wir hier wegmüssen.«
»Sicher, Adam; aber ich wäre beruhigt, wenn ich nicht der Einzige wäre, der sich darum kümmert. In dem Film steckt das Beste von mir. Die Menschen sollen ihn sehen.«
»Ganz Manhattan wird ihn sehen. Ein paar Wochen noch, dann ist Premiere.«
»Natürlich. Aber du tust mir den Gefallen, ja?«
Nichts leichter als das. Ich versprach es mit Handschlag. Dann verließ ich — ohne besagte Verbeugung auch nur anzudeuten — das Studio. Auf dem Weg nach oben hörte ich, wie der Projektor wieder losschnurrte.
Das umfriedete Palastgelände war ein Rechteck, das zweieinhalb Meilen lang und eine halbe Meile breit war. In alten Zeiten hatte es ein Mann namens Olmsted aus dem Boden Manhattans gestampft. Wohltuend und grün am Tag, nach Mitternacht einsam und verlassen. Das Gelände hatte eine ständige Bevölkerung an Beamten, Dienstpersonal und Gardisten; doch die allermeisten schliefen bereits seit Mitternacht. Inzwischen war sogar der Trubel der Wrap Party erloschen. Kaum etwas erinnerte an das, was hier am frühen Abend stattgefunden hatte, abgesehen von einem Ästhetenpaar, das in den Korbsesseln an der großen Piazza des Palastes schnarchte.
Von der Republikanischen Garde durften natürlich nicht alle schlafen. Die Gardisten hielten Wache, in Schichten wie die Matrosen auf hoher See. Sie bemannten rund um die Uhr die vier großen Gates und patrouillierten ständig an der hohen Umfassungsmauer. Einer von ihnen war Lymon Pugh, und er begegnete mir, als ich aus dem Palast kam. »Hallo, Lymon, immer noch Dienst?«
»Wurde eben abgelöst. Wollte mir noch ein bisschen die Beine vertreten, die Nacht ist so lau.«
Der Mond war aufgegangen. Nebel stieg vom nahen Weiher auf und streckte seine bleichen Finger in die Götterbaumhaine am Rand des Rasens. »Dieses Wetter ist mir nicht geheuer«, sagte ich. »In Athabaska hatten wir so oft Schnee gegen Erntedank, natürlich auch in Labrador. Und hier? — In diesem Jahr jedenfalls nicht.«
»Gehn wir ein paar Schritte, Adam. Ich habe nichts mehr zu erledigen, und schlafen kann ich sowieso nicht.«
»Der Schlaf ist manchmal wie ein scheues Baumhörnchen«, nickte ich. »Arbeitest du gerne für Julian?«
»Gern ist übertrieben. Es war nett von ihm, mich auszuwählen. Eine großartige Beförderung war nicht damit verbunden. Auf die Dauer … ich weiß nicht. Nichts gegen Julian Commongold — ich meine, Comstock —, aber ob er unterm Strich in das Amt passt?« Lymon wiegte den Kopf.
»Wie kommst du darauf?«
»Nach dem, was ich so gesehen habe, macht er im Grunde den Job eines Packstraßenaufsehers in einem Abpackbetrieb — der Job belohnt Rücksichtslosigkeit und tötet alle guten Charaktereigenschaften. Ich kannte einen Mann aus Seattle, der in der Fabrik, wo ich arbeitete, als Packstraßenaufseher eingestellt wurde, ein freigebiger Mann, lieb zu seinen Kindern, überall gern gesehen; aber man hat einen Packstraßenboss aus ihm gemacht, und nach einer Woche hörte ich, wie er jemandem die Gurgel durchzuschneiden drohte, wenn er nicht schneller spurte. Das war keine leere Drohung. Seitdem trug er ein Rasiermesser in der Gesäßtasche und spielte ab und zu damit herum.«
»Und mit dem vergleichst du Julian?«
»Julian ist kein schlechter Kerl. Überhaupt nicht. Das ist es ja. Ein richtig mieser Typ hätte es leichter als Präsident und käme auch vorwärts in dem Job.«
»Muss ein Präsident denn schlecht sein?«
»Denk ich mal. Aber ich weiß nicht viel von der Vergangenheit — vielleicht war es nicht immer so.« Unter unseren Schritten knirschte leise der Kies. »Ich will damit sagen«, fuhr Lymon fort, »dass Julian kein erfolgreicher Präsident ist, warum auch immer. Ich weiß, dass ihr eure Flucht plant.«
»Wer hat dir das erzählt?«
»Niemand, aber man hört dies und das. Du musst nicht darüber reden, Adam, ich hab nichts gesagt.«
»Nein — du hast ja Recht. Ich hoffe nicht, dass wir fliehen müssen. Aber es tut nicht weh, wenn man weiß, wo die Hintertür ist. Komm einfach mit, wenn das Fass überläuft, was Gott verhüten möge. Nach Frankreich. Das mediterrane Frankreich hat es Calyxa angetan.«
»Danke für das Angebot, Adam. Das ist Balsam für meine Seele. Aber was soll ich im Ausland? Ich kann Französisch nicht von Kanaanäisch unterscheiden. Wenn es dazu kommt, schnappe ich mir einen Gaul und reite nach Westen, wenn es sein muss, bis nach Willamette Valley.«
Wir näherten uns dem Gästehaus, in dem Calyxa, Flaxie und ich zurzeit noch wohnten. Ich wusste nicht, warum ich so traurig war, doch ich wollte nicht, dass Lymon Pugh es mitbekam, also hielt ich den Mund.
»Du hast eine wunderbare Familie, Adam Hazzard«, sagte er. »Pass gut auf sie auf. Nur das ist deine Aufgabe, sagt dir ein einfacher Gardist, der jetzt schlafen geht.« Er kehrte mir den Rücken. »Gute Nacht!«
»Gute Nacht«, brachte ich heraus.
Ich wartete an der Haustür, während Lymon Pugh zurück zum Palast ging.
Die Nacht war so außerordentlich still, wie sie es in der Stunde vor dem ersten Schimmer des neuen Tages zu sein pflegt — die Stille hängt wie ein sanfter Geist über der regungslos verharrenden Welt. [113] Silence brooding like a gentle spirit / O’er all the still and pulsless world … nach The Closing Year von George D. Prentice (1802–1870) (Anm. d. Übers.)
Hinten in der Dunkelheit gewahrte ich eine riesige Silhouette, die schwerfällig zwischen den Bäumen dahinschritt — es war Otis, der auf dem besten Wege war, eine nachtaktive Giraffe zu werden. Vielleicht genoss er gerade diese einsamen Stunden des frühen Morgens; oder fand einfach nicht in den Schlaf, wie andere auch.
Ich blickte noch eine Zeit lang in die Dunkelheit hinaus. Dann ging ich ins Haus und kroch, als sich der erste Glanz in den Himmel schlich, zu Calyxa ins Bett und kuschelte mich in die Wärme ihres schlafenden Körpers.
Von der nächtlichen Wrap Party , die den Abschluss der Dreharbeiten an The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin beging, bis zur Premiere des Films in einem plüschigen Broadwaytheater brauchte es keinen Monat mehr. Normalerweise eine kurze Zeitspanne; doch eine schreckliche Ewigkeit für den amtierenden Präsidenten …
Sam Godwin, der engen Kontakt zum Militär unterhielt, hatte die undankbare Aufgabe übernommen, Julian die schlechten Nachrichten zu überbringen — eine Rolle, die er immer öfter zu spielen hatte. Es war Sam, der Julian berichtete, die Kalifornische Armee sei in Colorado Springs auf heftigen Widerstand ekklesiastischer Kräfte gestoßen. Es war Sam, der ihm berichtete, die Rocky Mountain Division dieser Armee habe rebelliert und sei zu den Streitkräften des Dominion of Jesus Christ on Earth übergelaufen. Es war Sam (und ich beneidete ihn um diese Aufgabe am allerwenigsten), der gezwungen war, Julian davon in Kenntnis zu setzen, dass die Befehlshaber der Kalifornischen Armee nach dem breiten, aber vergeblichen Einsatz von Artillerie und Brandbeschleunigern mit dem Dominion-Rat einen Waffenstillstand ausgehandelt und die einseitige Feuereinstellung erklärt hatten — alles gegen Julians ausdrücklichen Befehl.
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